AndreasRauscher

Die Metamorphosen von Lynchland

Hermetische Filmwelten, offene Texte und der Rasenmäher-Mann auf dem LOST HIGHWAY

 

David Lynch stellt mittlerweile eine Art Markenzeichen dar, das automatisch bestimmte Assoziationen auslöst: Ein tanzender, rückwärts sprechender Zwerg im Anzug in einem jenseitigen Red Room mit schwarz-weiß gekacheltem Fußboden und roten Vorhängen, eine totenbleiche Clownsgestalt mit Videokamera, ein Mutantenbaby, dessen Vater im wahrsten Sinne des Wortes die Haare zu Berge stehen, und ein abgeschnittenes Ohr, um das sich auf einer idyllischen Sommerwiese die Käfer scharen.

Dennoch läßt sich nicht eindeutig festlegen, was die typischen Lynchismen sind. Natürlich kehren bestimmte Motive und Stimmungen in den bisher sieben Filmen des 1946 in Missoula, Montana, geborenen Regisseurs wieder. Doch Lynch widersetzt sich bis heute konsequent den gängigen Erwartungshaltungen. Auch mit Äußerungen zur Bedeutung seiner Filme hält er sich weitgehend bedeckt. (Eine sehr gute Annäherung bietet das letztes Jahr als deutsche Übersetzung erschienene Interview-Buch Lynch on Lynch, in dem Chris Rodley einige beachtliche Ergebnisse gerade dadurch erzielt, daß er gar nicht erst versucht die letzten Wahrheiten über die Arbeiten des Regisseurs in Erfahrung zu bringen.) In einem Interview erklärte John Carpenter neulich, daß ein Maler, der sein eigenes Bild analysiert, vorgehen würde wie ein Arzt, der eine Leiche seziert. Diese Feststellung läßt sich ohne weiteres auf die Arbeiten des auch als Maler und Fotograph aktiven David Lynch übertragen.

Seine Werke verfügen über eine beachtliche Eigendynamik, die sie zugleich als Autorenfilme, die in sich geschlossene Welten etablieren, und als eine Art offener Text im Rahmen der Popkultur funktionieren läßt. ERASERHEAD prägte den Begriff der Midnight Movies (nachzulesen in dem gleichnamigen Buch von J. Hoberman und Jonathan Rosenbaum) und der auf dem Alternative Tentacles-Label des ehemaligen Dead Kennedys-Sängers Jello Biafra veröffentlichte Soundtrack entwickelte sich zum Industrial-Kultalbum. WILD AT HEART verweist auf die schrägen Pop-Welten des Autoren Barry Gifford, deren filmische Umsetzung mit Alex De La Iglesias PERDITA DURANGO (1998) fortgeführt wurde, und die Serie TWIN PEAKS mußte auf Grund der zahlreichen Fan-Proteste mit verfaultem Kirschkuchen über den eigentlichen Plot hinaus fortgesetzt werden.

Mit dem Film TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME unterwanderte Lynch 1992 schließlich sämtliche Konventionen, die als ungeschriebene Gesetze für die Adaption einer TV-Serie im Kinoformat gelten. Statt sich an den gängigen Vorbildern wie beispielsweise STAR TREK zu orientieren, und die Plots aus dem Fernsehen im epischen Breitwandformat weiterzuerzählen, ging Lynch in die Zeit vor dem Pilotfilm zurück und machte die zu Beginn der Serie tot aufgefundene High School-Queen Laura Palmer zur zentralen Protagonistin.

Am Ende des Films kollabieren Erzählzeit und Raumstrukturen schließlich im jenseitigen Red Room vollständig. Nachdem Lynch im Verlauf des Films seine eigene in BLUE VELVET und WILD AT HEART etablierte Ästhetik mit den verstörenden Mitteln von ERASERHEAD demontierte, bleiben in seinem vorletzten Film LOST HIGHWAY (1997) schließlich nur noch einzelne, nicht-linear strukturierte Tableaus übrig. Mit seiner neuesten Arbeit THE STRAIGHT STORY, die gerade bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere hatte, wechselt Lynch nach der Dekonstruktion des eigenen filmischen Kosmos erneut das Sujet. Der Titel ist durchaus im doppelten Sinne zu verstehen. Die “authentische” (bei Lynch ist dieser Begriff auf alle Fälle mit Vorsicht zu genießen) Geschichte des Rentners Alvin Straight (Richard Farnsworth), der auf einem Rasenmäher den Mittleren Westen durchquert, um noch einmal seinen todkranken Bruder zu sehen, gestaltet sich im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Filmen als relativ einfache und straighte Geschichte. Die gezielte Reduktion erscheint im Fall Lynch als ein möglicher Ausweg aus der Postmoderne, die sich in ihren ständigen Querverweisen zum selbstgefälligen Zirkelschluß, oder wie in LOST HIGHWAY zur Möbiusschleife, zu entwickeln drohte. Anlaß für eine Spurensuche in den Fragmenten des klassischen Lynchlands.

 

Midnight Movie Mythen - Eraserhead

Während in der unteren Hälfte das Konterfei von Henry Spencer (Jack Nance) im Bild schwebt, nähert sich die Kamera zu dröhnend-summenden Geräuschen einer Kugel. Deren Anblick ähnelt einer Planetenoberfläche. In ihrem Inneren sitzt ein Mann (Jack Fisk). Er blickt aus dem Fenster und bedient Hebel. Eine Öffnung tut sich auf und eine Art Wurm fällt hindurch. Die Kamera taucht in eine Pfütze ein und anschließend in der tristen Welt Henry Spencers auf. Willkommen im Kosmos von ERASERHEAD.
Science Fiction-Autor J.G. Ballard, der unter anderem die Vorlage zu David Cronenbergs CRASH (1996) verfaßte, definierte Surrealismus als die Ikonographie des Inner Space. Diese Aussage läßt sich ohne weiteres auf ERASERHEAD übertragen, in dem fast der gesamte filmische Raum als eine Art Inner Space des Protagonisten Henry erscheint. Realität und Traum lösen sich so weit auf, daß sich die unterschiedlichen Ebenen nicht mehr klar voneinander trennen lassen. Die Soundcollagen aus kosmischem Rauschen und nicht näher lokalisierbarem Industrielärm auf der Tonspur verwandeln die engen Räume des Films in ausufernde Projektionsflächen für die Ängste und Sehnsüchte Henrys.

Auch über zwanzig Jahre nach seiner Entstehung stellt ERASERHEAD einen der Konsensfilme abseits des Mainstreams dar. Die formale Geschlossenheit der in schwarz-weiß gefilmten Tableaus, das einem Kalbsfötus ähnelnde Monsterbaby, die surrealen Alptraumwelten und der absurde Humor konnten so unterschiedliche Regisseure wie Stanley Kubrick, John Waters und Mel Brooks, und nicht zuletzt ein eingeschworenes Stammpublikum, das den Film in zahlreichen Spätvorstellungen zum Klassiker unter den Midnight Movies machte, begeistern. Hauptdarsteller Jack Nance, der bis zu seinem rätselhaften Tod am 30. 12. 1996 immer wieder in kleineren Rollen bei Lynch zu sehen war, spielt eine Art Jacques Tati für das Industrial-Zeitalter. Langsam und genau beobachtend, ohne dabei wirklich zu reagieren, bewegt sich der Protagonist Henry Spencer durch eine triste, alptraumhafte Hinterhoflandschaft. Wie aus weiter Entfernung klingt durch die Industrial-Kracharrangements des Soundtracks eine Orgelmelodie, die an alte Slapstickfilme erinnert. Von seiner Nachbarin erfährt er, daß er bei den Eltern seiner Freundin Mary X (Charlotte Stewart) zum Essen eingeladen ist. Das folgende Dinner gestaltet sich als eine einzige abstruse Kommunikation unter erschwerten Bedingungen.

Die X Family befindet sich als scharfsinnige Persiflage auf das amerikanische Familienidyll nicht allzu weit von der legendären Sawyer-Family aus Tobe Hoopers ersten beiden TEXAS CHAINSAW  MASSACRE-Filmen entfernt. In der Küche sitzt die Großmutter der Familie, ohne daß man genau weiß, ob sie nicht bereits das Zeitliche gesegnet hat. Die robuste Mutter legt ihr, um sie in den Familienevent zu integrieren, eine Schüssel auf den Schoß und rührt dann doch selbst darin. Der Vater erzählt Henry inzwischen von seiner Arbeit als Klempner. Mary selbst verhält sich äußerst zurückhaltend. Es gibt seltsame kleine Vögel aus dem Backofen zum Abendessen. Nicht von ungefähr erinnert die ganze Essensprozedur an ein typisches Thanksgiving-Szenario. Als Henry versucht das Geflügel zu schneiden, fließt Blut zwischen den Schenkeln hervor. Die Mutter beginnt hysterisch zu zittern. Der Abend gipfelt darin, daß sie Henry inquisitorisch verhört, ob er mit Mary Geschlechtsverkehr hatte. Im Krankenhaus wartet ein Baby, für dessen Vater die Mutter Henry hält, obwohl dieser es abstreitet. Aus der grotesken Übersteigerung einer melodramatischen Familienszene, die sich auf der einen Seite in völlige Hysterie (Mutter X) und auf der anderen in hilflose Apathie (Vater X) entlädt, entwickelt sich eine klaustrophobische Beziehungshölle. Henry und Mary ziehen zusammen und pflegen das monströse Baby, das ihre gesamte Aufmerksamkeit fordert.

Nachdem Mary völlig entnervt die Flucht ergriffen hat, konzentriert sich der Verlassene auf seine Nachbarin, die jedoch bereits einen anderen Geliebten hat und an Stelle von Henry nur den Kopf des  Monsterbabys wahrnimmt. Mit wehmütigen Blicken beobachtet Henry im Niemandsland zwischen Traum und Wirklichkeit auch die pausbäckige Lady in the Radiator (Laurel Near), die auf einer Bühne kleine Würmer zertritt und über die Versprechen eines Himmels singt, in dem jeder sein Glück (“you got your good things and I got mine”) findet.

Als Henry das Geschehen verfolgt, reißt das Baby plötzlich seinen Kopf ab, der zuerst auf die Bühne und anschließend durch die sich bildende Blutlache hindurch in einen Hinterhof fällt. Ein Junge hebt ihn auf und bringt ihn in eine Fabrik, wo er zu Radiergummis verarbeitet wird.

 Lynch etabliert in diesen Sequenzen jene irrealen Bildwelten, die in seinen späteren Filmen entweder als Alpträume (DUNE, BLUE VELVET) oder eigenständige filmische Räume (TWIN PEAKS, LOST HIGHWAY) wiederkehren.   In einer Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Beobachters aus dem Heizkörper ein. Die Lady in the Radiator läßt sich daher schwerlich auf eine reine Fantasieprojektion Henrys reduzieren. Vielmehr besteht ERASERHEAD aus verschiedenen Räumen und Realitätsebenen, die sich, wie Georg Seeßlen anmerkte, gegenseitig beobachten. Die Bühne ähnelt dabei nicht nur im Design dem jenseitigen Red Room aus TWIN PEAKS, in dem sich in FIRE WALK WITH ME schließlich auch die narrativen Zeitstrukturen auflösen.

Nachdem Henry scheinbar aus seinem Alptraum erwacht ist und sich auch alle Hoffnungen auf seine Nachbarin zerschlagen haben, schreitet er zur Tat. Er tötet das schreiende Baby, aus dem Innereien hervorquellen, die das ganze Zimmer füllen. Der in der Anfangssequenz eingeführte Planet explodiert, und damit löst sich auch Henrys Welt auf. In gleißendem Licht steht er endlich ungestört der Lady in the Radiator gegenüber.

Ähnlich dem kleinwüchsigen Man from Another Place (Michael Anderson) in TWIN PEAKS verfolgen auch die Lady in the Radiator und der Mann im Planeten in ERASERHEAD das Geschehen, ohne daß sie direkt in die Handlung eingreifen. Der Mann im Planeten kann zwar in der Anfangssequenz Hebel, und damit auch die Handlung in Bewegung setzen, doch auf die Zerstörung des etablierten filmischen Kosmos, als Henry das Baby tötet, hat er keinen Einfluß. Seine Position ähnelt der eines Zuschauers oder Filmvorführers, der zwar eine Projektion starten, aber nicht interaktiv in die Handlung eingreifen kann. Die Sequenz am Ende des Films, in der Henry der Lady in the Radiator erneut begegnet, verweist auf einen nicht näher definierten transzendentalen Raum. Wie Agent Dale Cooper und Laura Palmer im Finale von FIRE WALK WITH ME finden Henry und die Lady in the Radiator in einem Bereich jenseits der Gesetze der klassischen filmischen Narration zusammen. Lynch benutzt, wie später auch in BLUE VELVET und WILD AT HEART, auf gebrochene Weise kitschige Motive. Durch ihre Offensichtlichkeit erhalten diese Stilmittel als Gegenakzent zum zuvor exakt beschriebenen Grauen eine existentielle Komponente. Der über sich selbst aufgeklärte Gebrauch des ins Abstrakte überhöhten Kitschs erzielt bei Lynch in seinen besten Momenten eine Wirkung, die dem entspricht, was der Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader in seinem Essay Transcedental Style in Film 1972 als Stasen beschrieb. Jene Risse im narrativen Gerüst eines Films, die auf einen transzendentalen Raum verweisen, setzt Lynch auf gezielt übersteigerte Weise ein. Weder der Red Room in TWIN PEAKS, noch die Welt hinter dem Heizlüfter in ERASERHEAD lassen sich klar erfassen. Sie bleiben skizzenhafte Entwürfe einer jenseitigen Welt.

Auf einer anderen Ebene erzielt Lynch solche Augenblicke des Innehaltens, die der französische Filmkritiker Michel Chion Forever Scenes nannte, in der Inszenierung von Songs: Isabella Rossellinis Performance des Titelsongs in BLUE VELVET, Julee Cruises schmachtende Stücke über die Questions in a World of Blue  in TWIN PEAKS, Bill Pullmans expressives Saxophon-Solo in LOST HIGHWAY und auch das Ende von ERASERHEAD setzt jene Phrase ins Bild um, die zuvor der Song der Lady in the Radiator beschrieb. - In Heaven Everything is Fine. Doch genau diesen Slogans kann man bei Lynch nicht trauen, denn Himmel und Hölle lassen sich bei ihm nicht klar voneinander trennen. Gerade auf Grund ihrer Offensichtlichkeit erscheinen Idyllen in Lynchs Filmen dubios. Sie bedingen automatisch das Grauen dahinter, egal ob es in der Gestalt von Dennis Hopper als Frank Booth (BLUE VELVET) oder Frank Silva als Killer Bob (TWIN PEAKS), beides Inkarnationen des abgrundtief Bösen, in Erscheinung tritt.   

Bereits in ERASERHEAD zeigt sich Lynchs Vorliebe für bestimmte Bildmotive und Stilmittel, die in seinen anderen Arbeiten wiederkehren. Das industrielle Ambiente prägt den gesamten Film, sowohl auf der bildlichen, als auch auf der Soundtrackebene. In späteren Lynch-Filmen obligatorische Effekte wie flackerndes, elektrisches Licht und die eigentümliche Soundgestaltung gehören zu seinen festen Utenisilien, die er wie verschiedene Farben bei der Gestaltung eines Gemäldes immer wieder in neuer Form zum Einsatz bringt.

Die Anekdoten um die fünf Jahre andauernden Dreharbeiten zu ERASERHEAD förderten den Midnight Movie-Mythos um den Film und seinen Regisseur. Lynch begann mit der Entwicklung des Stoffs in Philadelphia. 1970 zog er nach Kalifornien, um am Center for Advanced Film Studies zu studieren. Der Film entstand mit finanzieller Unterstützung des American Film Institutes, das ursprünglich einen Kurzfilm erwartete. Die Stammcrew um Lynch, die ihn auch bei zahlreichen seiner späteren Projekte begleitete, quartierte sich in einem baufälligen Schuppen ein, in dem die Kulissen für den Film entstanden. Die Begleitumstände ergaben die Bilderbuchbiographie eines Auteurs: Um seine eigenwillige Vision zu realisieren verdiente Lynch in den Nachtstunden, in denen nicht gedreht wurde, Geld als Zeitungsausträger. Zeitweise wohnte er sogar im Set des Films. Kameramann Fredric Elmes arbeitete gleichzeitig an John Cassavetes THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE (Mord an einem chinesischen Buchmacher).  Über die Herstellung des Babys, das für das geringe Budget des Films einen erstaunlichen Special-Effect darstellt, hüllt sich Lynch bis heute genüßlich in Schweigen. Es bildet einen weiteren Bestandteil der zahlreichen Mythen um den Film.

Mit ERASERHEAD etablierte Lynch die Grundmotive seines Oeuvres, auch wenn die definitive Blaupause von Lynchtown erst sieben Jahre später mit BLUE VELVET entstehen sollte. Nach dem immensen Erfolg des Films als Midnight Movie und Avantgarde Hit folgte Lynch seiner Vorliebe für unberechenbare künstlerische Entscheidungen und übernahm die Regie von THE ELEPHANT MAN (Der Elefantenmensch). And now for something completely different.... (oder vielleicht doch nicht ?)

 

Ausflüge in den Mainstream - THE ELEPHANT MAN und DUNE

Obwohl sie sich einigermaßen schlüssig ins Gesamtwerk Lynchs einfügen bilden THE ELEPHANT MAN (1980) und DUNE (1984) zwei Ausnahmen in der Arbeit des Regisseurs. Selten war Lynch dem Mainstream so nah, wie in diesen beiden Filmen. Zwar erfüllten sich nicht die Befürchtungen, daß Lynch mit THE ELEPHANT MAN das responsible movie of the week abliefern würde, aber unter allen Lynch-Filmen folgt er am stärksten konventionellen Strukturen, allerdings nicht im negativen Sinne. Der authentische Fall des durch körperliche Mißbildungen stark verunstalteten John Merrick wurde vor dem Film bereits in einem Theaterstück dramaturgisch bearbeitet. Lynch folgt der Odysee des Außenseiters (überzeugend dargestellt von John Hurt) durch das London des späten 19. Jahrhunderts in elegant komponierten schwarz-weiß Aufnahmen. Streckenweise verwendet Lynch Elemente des traditionellen Horrorfilms, um diese gegen sich selbst auszuspielen und das Menschliche im Monströsen zu entdecken. Obwohl die Thematik durchaus ins Lynch-Terrain paßt, beschränken sich die ansonsten typischen Elemente in THE ELEPHANT MAN auf einige kurze Sequenzen, unter anderem einen traumartigen Prolog. Ansonsten gestaltet sich Lynchs zweite größere Regiearbeit als klassischer Schauspielerfilm, getragen von erfahrenen Darstellern wie John Gielgud, Anne Bancroft und Anthony Hopkins (Hannibal the Cannibal in humanitärer Mission). Nach dem immensen künstlerischen und kommerziellen Erfolg des Films erhielt THE ELEPHANT MAN acht Oscar-Nominierungen, inklusive der Schlüsselkategorien für den besten Film, Regie, Hauptdarsteller und Drehbuch. Doch Lynchs Exil im Mainstream war damit noch nicht abgeschlossen. Während sein Produzent, der Slapstick-Papst Mel Brooks (FRANKENSTEIN JUNIOR, SILENT MOVIE), der 1986 auch David Cronenbergs THE FLY (Die Fliege) betreute, durchaus Gespür in der Zusammenarbeit mit unkonventionellen Regisseuren bewies, drohte Lynch mit der millionenschweren Romanverfilmung DUNE (Der Wüstenplanet) für den Produzentenmogul Dino de Laurentiis seine gerade begonnene Karriere im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand zu setzen.

 

Zwischendurch erhielt Lynch 1982 von George Lucas das Angebot RETURN OF THE JEDI (Rückkehr der Jedi-Ritter), den dritten Teil der mittleren STAR WARS-Trilogie zu inszenieren. Bedauerlicherweise lehnte er dankend ab, um mit DUNE den Versuch einer eigenen Science Fiction-Kinomythologie zu starten, statt die eines anderen fortzuschreiben. Man kann sich nur im Nachhinein ausmalen, wie der Film ausgesehen hätte, wenn Lynch und nicht Richard Marquand auf dem Regiestuhl gesessen hätte. - Jabba the Hutt als Teil der exzentrischen Lynch-Schurkengalerie und Vorläufer von Frank Booth und Mr.Eddy, bizarre Unfallszenarios mit Speeder Bikes, Kamerafahrten, in denen das Insektenleben des Waldmonds Endor anstelle der penetrant niedlichen Ewoks erkundet wird, und der ödipale Konflikt zwischen Luke Skywalker und Darth Vader hätte auch etwas anders ausgesehen (“Don't look at me - Fuck ! - I'm your father. Daddy's home, Luke.”) Allein Vaders Atemgeräusche hätten BLUE VELVET bereits vorweggenommen.

Doch stattdessen widmete sich Lynch dem ausufernden Romanzyklus von Frank Herbert über den Wüstenplaneten Arrakis, besser bekannt als DUNE. Die Vorlage erschien Anfang der 60er Jahre ursprünglich als Fortsetzungsserie und wurde 1965 erstmals als Roman zusammengefaßt. Bis in die frühen 80er Jahre hinein erschienen fünf opulente Wälzer, in denen die mehrere Generationen umfassende Saga weiter ausgebaut wurde. Im Lauf der Romane entwarf Herbert ein ganzes Universum, dessen ökonomische, soziale und politische Details akribisch entwickelt wurden.  Bereits in den 70er Jahren gab es Pläne für eine Verfilmung des ersten Teils. Ursprünglich sollte der mexikanische Neo-Surrealist Alejandro Jodorowsky (EL TOPO, SANTA SANGRE), unterstützt von Moebius (Jean Giraud) und ALIEN-Erfnder H.R.Giger, Regie führen. Für eine Nebenrolle war sogar der surrealistische Künstler Salvador Dali vorgesehen. Nachdem das Unternehmen scheiterte, versuchte sich auch der britische Regisseur Ridley Scott (ALIEN, BLADE RUNNER) vergeblich an einer Adaption. 1983 übernahm schließlich Lynch mit einem Budget von ungefähr 50 Millionen Dollar das Projekt. Bis heute bleibt der fertige Film, von dem auch eine fünfstündige US-TV-Version, für die sich das Allround-Talent Alan Smithee verantwortlich zeichnet, eine der umstrittensten Arbeiten Lynchs.

DUNE folgt dem Aufstieg des unscheinbaren Fürstensohns Paul Atreides (Kyle MacLachlan) zum Herrscher über den ausgebeuteten Wüstenplaneten, Quelle der heftig umkämpften Spice-Droge, deren Konsum zu intergalaktischen Besenritten und der Fähigkeit ganze Raumschiffe alleine durch Gedankenkraft durchs All zu bewegen, führt. Durch eine hinterhältige Intrige des Imperators Shaddam (José Ferrer) fällt Pauls Vater (Jürgen Prochnow) den gegnerischen Harkonnen zum Opfer. Deren Anführer, der aufgedunsene, mit Hilfe von technischen Apparaturen durch die Gegend schwebende Baron Harkonnen (Kenneth McMillian) stellt einen markanten Eintrag in der Galerie der Lynch-Schurken dar. Seine Heimatwelt gleicht einer industriellen Müllhalde, die einen visuellen Gegenakzent zur weitgehend archaischen Technik auf den restlichen Welten des DUNE-Universums bildet. Doch wie zahlreiche andere gelungene Einfälle des Films gerät auch dieser in den Hintergrund, da Lynch das erschlagende epische Pflichtprogramm des Romans erfüllen muß. In einigen Traumsequenzen läuft Lynch zu gewohnter Hochform auf. Doch im Gegensatz zu seinen anderen Filmen muß in DUNE alles bis ins letzte Detail erklärt werden. Ständig tauchen neue Charaktere und Konstellationen auf, nur um sich wieder in den zahlreichen Handlungstableaus zu verlieren. Der interessante Versuch ganze Teile des Plots durch eine Vielzahl an inneren Monologen zu erzählen, scheitert an der Masse der Informationen. Lynchs Ansätze zur Inszenierung des Inner Space als surreale Bilderflut stehen konträr zum forcierten Drang des Plots zum pathetischen Heldenepos. Dessen Grundstruktur gestaltet sich, trotz der zahlreichen Seitenarme, relativ einfach: Paul und seiner Mutter Jessica (Francesca Annis) gelingt, nachdem die monströsen Harkonnen (unter ihnen Sting als messerschwingender Psychopath) durch Intrigen und Verrat die Herrschaft über den Wüstenplaneten zurückerobert haben, die Flucht in die Wüste. Dort angekommen treffen sie auf das geheimnisvolle Volk der Fremen. Die ausgebeuteten Ureinwohner des Planeten erkennen in Paul den langerwarteten Messias, der ihnen durch eine von den Machthabern lancierte, künstlich generierte Erlösungsmythologie versprochen wurde. Gemeinsam gelingt es ihnen die Harkonnen und den Imperator zu besiegen.

Durch die überladene Inszenierung kommen weder die opulenten Bauten, noch die durchaus spannende Untersuchung einer manipulativen Erlösermythologie zur vollen Entfaltung. DUNE bleibt ein Film voller Details und gelungener einzelner Einfälle, die kein geschlossenes Ganzes ergeben, obwohl die Narration penetrant darauf zusteuert. Auf den ersten Blick ähnelt das Finale, in dem Paul und seine Armee auf gigantischen Sandwürmern der entscheidenden Schlacht entgegenreiten, einer aufgeblasenen Rock-Oper. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den schwülstigen Gitarrensoundtrack, der an die unheimlichsten Ausläufer des 70er Jahre-Bombastrocks erinnert. Doch zwischen den einzelnen Ereignissen ergeben sich immer wieder Momente, in denen Lynch alle Register seines Könnens zieht und versucht den vorgeschriebenen, monotonen Ablauf der Space Opera mit surrealen Alpträumen und ausgefallenen Bildmotiven zu durchbrechen. Im Gegensatz zu George Lucas´ äußerst dynamischer STAR WARS-Saga, die eine Vielzahl von Genres in ihren eigenen Serienkosmos integriert, bildet in DUNE die Langsamkeit ein zentrales Motiv der Geschichte. Paul besiegt nicht nur eine bizarre, altertümlich aussehende Kampfmaschine durch seine langsamen Bewegung. In einigen Sequenzen bringt Lynch die Handlung zum Stillstand, um hinter die Oberfläche des Heldenepos zu blicken, obwohl ihn der omnispräsente Zwang zum Epischen weitertreibt.

Vielleicht wurde das Projekt eines mehrteiligen DUNE-Zyklus zu früh aufgegeben. Ursprünglich sollten zwei weitere Teile folgen. Während Lynch bereits an einem  Drehbuch für die Fortsetzung arbeitete, gab Dino de Laurentiis auf Grund der schlechten Einspielergebnisse des ersten Films das gesamte Unternehmen auf. Nach der ernüchternden Erfahrung mit DUNE zog sich Lynch aus dem Mainstream-Geschehen zurück und machte sich daran, basierend auf einem früheren Drehbuchentwurf mit BLUE VELVET 1986 endgültig den eigenen Kosmos von Lynchland zu etablieren, erstaunlicherweise erneut produziert von De Laurentiis.                                              
 

“Are you a detective or a pervert ?” - Blue Velvet

Lumberton - eine entlegene, amerikanische Vorzeige-Kleinstadt, die einer kitschigen Postkartenansicht entstammen könnte. Alles erscheint sauber und die Bewohner der prototypischen, mittelständischen Idylle könnten aus einer biederen Familienserie im Stil der 50er Jahre entkommen sein. Ein vorbeifahrender Feuerwehrmann winkt freundlich in die Kamera. Der lokale Radiosender informiert über das Wetter und fordert die Holzfäller dazu auf die Kettensägen rauszuholen. Der Himmel ist strahlend blau und im Garten arbeitet ein freundlicher alter Mann. Plötzlich bricht er zusammen und läßt den Gartenschlauch fallen. Der kläffende Köter erscheint in Großaufnahme und Zeitlupe wie ein aggressives Monster. Der Blick der Kamera senkt sich ins Gras, wo sich unzählige Käfer und Insekten sammeln, begleitet von den aus ERASERHEAD vertrauten dissonanten Soundmontagen.

Bereits der erste Anblick dieser falschen Idylle läßt keinen Zweifel daran, daß unter dieser properen Oberfläche das Grauen lauert. Entweder man erwartet das langsame Eindringen der BODY SNATCHERS in die sterilen Vorgärten Suburbias oder Michael Myers, der jeden Augenblick um die Ecke biegen könnte, um eine offene Rechnung zu begleichen. Doch Lynch läßt sich ausgiebig Zeit für seine surreale Revision einer klassischen Detective Story, in der die eigentliche Kriminalgeschichte fast völlig in den Hintergrund tritt, um den Blick in die dunklen Abgründe hinter den fadenscheinigen, kleinbürgerlichen Fassaden freizugeben. College-Student Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan, der nach DUNE für BLUE VELVET und TWIN PEAKS zu Lynchs bevorzugtem Hauptdarsteller avancierte) kehrt nach dem Schlaganfall seines Vaters (der freundliche Gärtner aus der Anfangssequenz) in seine Heimatstadt Lumberton zurück, um sich um dessen kleines Geschäft zu kümmern.

Bei einem Spaziergang über eine sonnige, malerische Wiese findet er ein abgeschnittenes, von Käfern übersätes Ohr. In dieser Sequenz dringt der Surrealismus der frühen Bunuel-Filme in die deutlich als artifiziell gekennzeichnete Postkartenlandschaft von Lumberton ein. Jeffrey kontaktiert den Sheriff und verliebt sich später in dessen biedere, aber in ihrer Naivität durchaus sympathische Tochter Sandy (Laura Dern). Da die einzige Alternative in einer Stadt wie Lumberton für nächtliche Aktivitäten lediglich darin besteht den apathischen Verwandten Gesellschaft vor dem Fernseher zu leisten, beginnt Jeffrey auf eigene Faust, unterstützt von Sandy zu ermitteln. Die Spur führt in den Slow Club, in dem die mysteriöse Sängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) auftritt. Während sie vor einem roten Vorhang den Song Blue Velvet intoniert, faßt Lynch den gesamten Abend in dieser Performance zusammen. Nach einer weichen Überblendung verschwindet einfach von einer Szene auf die andere fast die gesamte Begleitband. Durch diese Montage kompensiert Lynch die wesentlich längere Erzählzeit in einem Song, der die gesamte Atmosphäre dieses Filmsegments prägt. Die Narration erfolgt in BLUE VELVET zu einem entscheidenden Anteil über den gezielten Einsatz des Soundtracks, bei dem Lynch zum ersten Mal mit seinem späteren Dauerkomponisten Angelo Badalamenti zusammenarbeitete.

 Statt sich auf die Erzählmechanismen eines gewöhnlichen Thrillers im Ambiente der 50er Jahre einzulassen, prägen diese Abschweifungen vom gewöhnlichen Geschehen den gesamten Film. Der nette Kleinstadtsheriff und andere Charaktere wie Sandys früherer Freund Mike, die nach klassischen Konzeptionen eine zentrale Rolle in der Handlung einnehmen würden, spielen wie auch die  Auflösung des Verbrechens im weiteren Verlauf der Geschichte  lediglich eine marginale Rolle. Lynch verfährt mit vertrauten narrativen Mustern, indem er über diese improvisiert. Ähnlich wie im Free Jazz einfache Schnulzen zerlegt und zu etwas Neuem wieder zusammengesetzt werden, dekonstruiert Lynch Motive und Genrekonstellationen, ohne sich dabei auf die unverbindliche, harmlose Nostalgie einer postmodernen Collage einzulassen.

Neben Blue Velvet bekommen im Verlauf des Films auch die Songs In Dreams von Roy Orbison und die Ballade Love Letters einen neuen Subtext verpaßt, der reichlich wenig mit ihrem ursprünglichen Kontext zu tun hat. Lynch bezieht ständig Rezeptionshaltungen in seinen Film ein und spielt mit diesen. Jeffreys Gegenspieler der in schwarzes Leder gehüllte Frank Booth (Dennis Hopper in einer seiner besten Rollen) entpuppt sich als ein wahres Monster der Popkultur, indem er alle traditionellen Gesten eines Rebel Heros ins Absurd-Bedrohliche übersteigert. Wenn er Jeffrey einen Love Letter- straight from the heart verspricht, kommt diese Ankündigung einer tödlichen Bedrohung gleich,  und als Frank beim Hören der Songs Blue Velvet und In Dreams zu Tränen gerührt in mörderische Sentimentalität verfällt, ist mit allem zu rechnen.

Den Gegenpol dazu bildet das elegische Mysteries of Love, das die Komponisten Badalamenti und Lynch deutlich als artifiziellen, aber zugleich auf gebrochene Weise existentiellen Kitsch kennzeichnen. Der Song begleitet in der Instrumentalversion die erste Annäherung zwischen Jeffrey und Sandy, die ihm von ihrem Traum erzählt, in dem die Rotkehlchen das Böse verdrängen. Mel Brooks beschrieb den zentralen Konflikt in Lynchs Filmen treffend als den Kampf der Naivität gegen das Böse. Lynch nimmt Charaktere wie Sandy und Jeffrey (oder Sailor und Lula in WILD AT HEART) auf reflektierte Weise durchaus ernst, indem er ihre Zeichen, die Mysteries of Love oder im nächsten Film die Bezüge zu THE WIZARD OF OZ (Das zauberhafte Land), mit Bedeutung auflädt, ohne sich völlig auf die dahinterstehende naive Weltsicht einzulassen. Bevor Lynch seine Protagonisten in ein betont künstliches Happy-End entläßt, muß sich Jeffrey in eine seltsame und faszinierende Welt begeben, in der sich nicht nur Sandy fragt, ob er als Detective oder Pervert agiert. J.G.Ballard charakterisierte den filmischen Kosmos von BLUE VELVET entsprechend als “eine Neuverfilmung von THE WIZARD OF OZ, mit einem Drehbuch von Franz Kafka und Francis Bacon als Ausstatter.”  

Nach Dorothy Vallens Auftritt im Slow Club begibt sich Jeffrey in deren Wohnung, die er zuvor in einer schlechten Verkleidung als Kammerjäger inspiziert hatte und dabei die Schlüssel mitgehen ließ. In der folgenden Sequenz verwandelt sich das gemächliche Detektivspiel in eine sado-masochistische Performance. Jeffrey bleibt im weiteren Verlauf der Geschichte über die routinierte Drei Fragezeichen-Detektivarbeit hinaus, in der ihm keine Hitchcock-Mechanismen weiterhelfen können, als Held weitgehend passiv. Vielmehr nimmt er ab der folgenden Schlüsselszene häufiger unfreiwillig die Zuschauerfunktion ein. 

Bereits die Einrichtung von Dorothys Appartement stellt einen deutlichen Gegensatz zu den bisherigen Schauplätzen des Films dar. Die langen Gänge der in dunklen Farbtönen gehaltenen Wohnung verstärken den klaustrophobischen Eindruck, der zugleich die erste Hälfte von LOST HIGHWAY vorwegnimmt. Die Durchsuchung von Dorothys Appartement scheitert vorzeitig daran, daß Jeffrey Sandys warnende Hupsignale überhört. Dorothy kehrt überraschend nach Hause zurück, und er versteckt sich im Wandschrank. Nach einem eigenartigen Telefonat, das er nur fragmentarisch verstehen konnte, entdeckt sie den ungebetenen Gast, der in seiner Rolle zwischen Voyeur und Detektiv changiert. Dorothy bedroht ihn mit einem Messer und zwingt ihn dazu sich auszuziehen. Als es an der Tür klingelt, drängt sie ihn zurück in den Schrank. Von dort aus beobachtet er, in der gleichen Position wie der Zuschauer gefangen, den ersten markanten Auftritt von Frank. Dieser bombadiert Dorothy mit wüsten Beschimpfungen und vollführt mit ihr ein sado-masochistisches Ritual, in dem er abwechselnd die Rolle des brutalen Vaters und des ängstlichen Kindes annimmt. Später wird sich herausstellen, daß er Dorothys Mann Don und ihren Sohn entführt hat und sie auf diese Weise erpreßt. Während des Rituals inhaliert Frank wie besessen aus einer Gasmaske und läßt sich ein Stück blauen Samt als Fetisch in den Mund stopfen. Nachdem Frank ebenso plötzlich wie er aufgetaucht ist, verschwindet, holt Dorothy Jeffrey aus dem Schrank und fordert ihn auf sie festzuhalten, während sie ihn mit Don anspricht.

Die Suche nach dem Geheimnis hinter dem abgeschnittenen Ohr, das Lynch im Interview mit Chris Rodley als eine Form des Eingangs in fremde Gefilde beschrieb, entwickelt sich zu einem surrealen Trip in die seelischen Abgründe hinter der konventionellen Kriminalgeschichte. Jeffrey übernimmt die Rolle des ins Geschehen einbezogenen Voyeurs, der im Gegensatz zum spurensuchenden Private Eye keine analytische Distanz mehr zu den Ereignissen hat. Nach den Erlebnissen in Dorothys Appartement quälen Jeffrey Alpträume, die Franks spätere Ankündigung, “In Dreams- I walk with you. In Dreams- I talk to you. In Dreams - you´re mine all the time” vorwegnehmen. Dieses Motiv steigert Lynch in TWIN PEAKS mit der Figur des Killer Bob, der Frank Booths verbale Drohung in den Alpträumen Laura Palmers Wirklichkeit werden läßt, und in LOST HIGHWAY greifen schließlich die paranoiden Entfremdungsängste Fred Madisons auf die gesamte filmische Struktur über. Parallel dazu versagt zunehmend die verbale Kommunikation zwischen den Protagonisten. Auch in BLUE VELVET bringt es Jeffrey nicht fertig, Sandy von seinen Erlebnissen, abgesehen von den neuesten Erkenntnissen im Entführungsfall, zu berichten.

            Nach einem erneuten Besuch bei Dorothy steht Jeffrey plötzlich Frank und seiner Gang (unter ihnen Jack Nance) gegenüber. Er gibt sich als ein Nachbar aus und wird daraufhin, begleitet von Dorothy, zu einem denkwürdigen Joyride der besonderen Art eingeladen. Frank verschleppt ihn in ein eigenartiges Etablissement, in dem der tuntige, auf abstruse Weise überhöfliche (“ I drink to your fuck, Frank.”) Ben (Dean Stockwell) mit einer vorgehaltenen Lampe als Mikro-Ersatz den Song In Dreams zum Besten gibt. Als Franks emotionaler Zustand während der Performance zwischen unkontrollierter Wut und pathetischer Ergriffenheit schwankt, bricht Ben die Vorführung ab. Der Joyride geht weiter. Frank brüllt, “Now it´s dark. Let´s fuck.”. Die Fahrt führt ins Niemandsland der Vorstadt. Als der Psychopath erneut das bereits vertraute Ritual mit Dorothy vollführen will, nimmt Jeffrey seinen ganzen Mut zusammen und versucht ihn zu stoppen. Die Gang verprügelt Jeffrey zu den Klängen von In Dreams, während ein Mädchen dazu auf dem Dach des Wagens tanzt.

Der wutentbrannte Frank droht ihm mit einem Love Letter aus seiner Pistole und erklärt ihm, “You´re like me.” Auch Jeffrey hat mittlerweile ein Verhältnis mit Dorothy begonnen, und kommt dabei nur widerwillig ihrer Aufforderung nach, sie zu schlagen. Bis zum Ende des Films spricht Frank Jeffrey mit “Hey Neighbor” an. Mit dieser Catchphrase erinnert er seinen Gegenspieler über den reinen Running Gag hinaus daran, daß sich das Verhältnis zwischen Good Guy und Bad Guy weitaus ambivalenter gestaltet, als es eine gewöhnliche Crime Story erwarten ließe.

Der ganze Joyride hat den Charakter eines skurrilen Alptraums, in dem sich das Grauen immer nahe an der Groteske befindet. Bens Etablissement, in dem auch Dorothys Mann und ihr Sohn gefangengehalten werden, wirkt wie das dunkle Gegenstück zu den Trashszenarien in den Filmen von John Waters. Der Joyride markiert zugleich das erste Auftauchen der Fahrt über einen nächtlichen Highway in den Filmen Lynchs. Der Trip führt durch die Dunkelheit in einen nicht genau faßbaren Grenzbereich, in dem sich Alptraum und Realität vermischen. Während der Joyride noch eine Umkehrung des klassischen Cruisings unter brutalisierten Vorzeichen darstellt, taucht in WILD AT HEART und FIRE WALK WITH ME das Highway-Motiv in Zusammenhang mit äußerst dramatischen Szenen ohne jegliche ironische Brechung auf. In LOST HIGHWAY wird die “Road to Nowhere” schließlich zum Sinnbild für den gesamten Film.

Franks penetrantes Insistieren darauf, nicht angesehen zu werden (“Don´t look at me, fuck !”) signalisiert seine Angst davor, daß seine überstilisierte Selbstinszenierung ihre Wirkung verlieren könnte. Im Finale nimmt Jeffrey, nachdem er in Dorothys Wohnung die verstümmelte Leiche Dons, die den schmerzgepeinigten Portraitmalereien Francis Bacons ähnelt, entdeckt hat, noch einmal die Voyeursposition im Kleiderschrank ein. Kurz vor der entscheidenden Konfrontation mit Frank reduziert Lynch wieder ganze narrative Segmente auf einen Song - die Ballade Love Letters, an deren Bedeutung nach Franks Versprechen eines Liebesbriefs zwischen die Augen keinerlei Zweifel mehr besteht. Der mittlerweile von der Polizei gejagte Frank entkommt seinen Verfolgern und versucht Jeffrey zu stellen. Im letzten Moment kann sich dieser jedoch die Waffe eines ermordeten, verräterischen Cops greifen und damit Frank aus seinem Versteck im Schrank heraus erschießen.

In der letzten Sequenz fährt die Kamera aus Jeffreys Ohr, der gemütlich auf einer Gartenliege vor sich hin döst. Mysteries of Love ertönt, Dorothy spielt mit ihrem Sohn, Jeffreys Vater ist wieder gesund und auch ein mechanisches Rotkehlchen taucht mit einem Käfer im Schnabel am Gartenzaun auf, als wäre Sandys Traum in Erfüllung gegangen. Lynch gönnt zwar seinen Protagonisten die Bilderbuch-Idylle, aber er inszeniert sie nicht auf affirmative Weise. In LOST HIGHWAY wird Balthazar Getty als Pete Dayton sich noch einmal im gleichen Ambiente befinden und es gibt an diesem Ort nichts mehr zu entdecken. In den letzten Momenten von BLUE VELVET besteht kein Zweifel daran, daß diese malerischen Aufnahmen trügerisch sind. Um den Zuschauer daran zu erinnern, zeigt die Kamera noch einmal den weißen Gartenzaun und den immer noch zombiehaft winkenden freundlichen Feuerwehrmann aus der Eröffnungssequenz. Lynch selbst kommentierte den Schluß von BLUE VELVET in Lynch on Lynch überraschend deutlich: “Es ist kein Happy-End. Es sind dieselben Bilder wie am Anfang, nur weiß man jetzt viel mehr über die Figuren.” Während sich der Kosmos von BLUE VELVET mit dieser Kreisbewegung schließt, die bereits zehn Jahre vor LOST HIGHWAY andeutet, daß man Möbiusschleifen nicht immer trauen darf, führt außerhalb von Lumberton die verlassene Straße weiter hinein ins Lynchland.

 

Wicked Games and Weird On Top - Wild at Heart

Fast parallel zu Lynchs nächstem Film erschien dessen Romanvorlage, mit der Barry Gifford einen literarischen Pop-Kosmos schuf, der den Welten David Lynchs in nichts nachsteht. Im Gegenteil harmonierten literarische und filmische Version der Geschichte so weit, daß Gifford später am Drehbuch zu LOST HIGHWAY mitarbeitete. Aus der Road Novel WILD AT HEART um das Liebespaar Sailor und Lula entwickelte der Autor eine ganze Serie von Spin-Offs. Während sich in den Romanen Giffords schwarzer Humor und absurde Gangstergeschichten ergänzen, ohne dabei allzu stark ins Artifizielle abzugleiten, konzentriert sich Lynch von der ersten Sequenz an auf die Etablierung eines ständig kurz vor der Implosion stehenden Pop-Kosmos, bestehend aus Zitaten und unerwarteten stilistischen Wendungen

Die Geschichte beginnt in einem Ort an der Grenze zwischen North und South-Carolina mit dem vielversprechenden Namen Cape Fear. In der ersten Szene überwältigt Sailor (Nicolas Cage) auf brutale Weise einen Profikiller, den Marietta (Diane Ladd), die besitzergreifende Mutter seiner Freundin Lula (Laura Dern, die in dieser Rolle eindrucksvoll demonstriert, daß sie sich nicht auf die entsexualisierte Sandy aus BLUE VELVET festlegen läßt) auf ihn angesetzt hat. Der abrupte Gewaltausbruch erklärt sich erst später aus verschiedenen subjektiven Rückblenden: Marietta hatte Sailor auf der Toilette bedrängt. Als er sich ihr verweigerte, gab sie ihrem Handlanger den Befehl Sailor abzustechen.

WILD AT HEART arbeitet konsequent mit der gezielten Montage von Handlungsfragmenten. Der biographische Hintergrund der Charaktere und die Bedeutung von erinnerten Ereignissen ergibt sich erst im Verlauf des Films, als eine Art Work in Progress, die sich zu keinem geschlossenen Ganzen fügt. Die kurzen Flashbacks hinterlassen am Ende den Eindruck, als würden sie aus anderen Geschichten mit eigenen Dramaturgien stammen. Die Genres existieren in WILD AT HEART nicht nebeneinander, sie überlagern sich ständig.  

Nach Sailors Entlassung aus dem Gefängnis beschließt das wiedervereinte Liebespaar nach Kalifornien zu fahren. Während das narrative Grundgerüst der Lovers on the Run linear abläuft, nutzen sowohl Lynch als auch Gifford dieses traditionelle Road-Movie-Muster als Basis für Improvisationen und spielfreudige Abweichungen, indem sie ständig die vertrauten Funktionsmechanismen des Themas außer Kraft setzen. Der klassische Genreimperativ “Go West” spielt nach der ersten Hälfte von WILD AT HEART gar keine Rolle mehr. Nach einem kurzen Aufenthalt in New Orleans und einer langen Fahrt durch die Nacht nimmt die Reise in dem tristen texanischen Ort Big Tuna ein vorzeitiges Ende, wo erneut das Genre wechselt.

In WILD AT HEART scheint ein Road-Movie abzulaufen, das erst gar nicht in die Gänge kommen soll und in dem das tragische Scheitern eines letzten Versuchs den individuellen Traum von Freiheit zu realisieren, der in Dennis “Don´t Look at Me, Fuck!” Hoppers EASY RIDER (1969) noch den gesamten Film bestimmte, obsolet geworden ist. Marietta hetzt Sailor und Lula die Schergen ihres Geliebten Santos auf den Hals. Der brutale Gangsterboß braucht seine Handlanger jedoch gar nicht erst auf die potentielle Verfolgungsjagd anzusetzen, da das Syndikat so weit verzweigt ist, daß es den Flüchtenden ohnehin zuvorkommt. Bevor Sailor und Lula in Big Tuna steckenbleiben, haben Santos Kontaktmänner bereits die ortsansässigen Gangster ihres Vertrauens verständigt. Der einzige Charakter, der die Gesetze des klassischen  Road-Movies noch beim Wort nimmt, erleidet vorzeitig ein tragisches Schicksal. Bevor sich Santos des Falls annimmt, folgt der Privatdetektiv Johnnie Farragut (Harry Dean Stanton), ein weiterer Geliebter Mariettas, der Spur nach New Orleans. In einer scheinbar endlos langen Fahrt zu den Klängen des Songs Baby Please Don´t Go, dessen Lyrics ihn eigentlich bereits explizit vor der drohenden Gefahr in New Orleans warnen, begibt er sich an den Ort des Geschehens, nur um dort apathisch im Hotelzimmer zu sitzen. Der ständige Underdog und unglücklich in Marietta verliebte Privatschnüffler hat in WILD AT HEART keine Aufgabe mehr. Bevor er die Verfolgung weiter aufnehmen kann, überwältigen ihn Santos Leute und exekutieren ihn in einer bizarren sado-masochistischen Performance. 

 Die Individualität, die noch die tragischen Anti-Helden der 70er-Road Movies prägte, existiert in WILD AT HEART nur noch als Querverweis. Sailor muß immer wieder betonen, daß seine Marlon Brando-Schlangenlederjacke ein Zeichen seiner Individualität sei. Ähnlich offensichtlich gestalten sich seine Elvis-Einlagen. Wenn Sailor auf einem Speed-Metal-Konzert die Band mit dem schönen Namen Powermad dazu animiert ihn bei der Ballade Love Me zu begleiten, erscheint die Herkunft seiner Pose und ihre zugeschriebene Wirkung völlig berechenbar. Als Sailor in Big Tuna von dem charismatischen Fiesling Bobby Peru (Willem Dafoe) zu einem gemeinsamen Coup überredet wird, der sich als Hinterhalt entpuppt, fragt er sich hingegen ratlos, was er hier überhaupt verloren hat. Das Rebellentum Sailors beschränkt sich auf die bedeutungsschwangeren Gesten. Als er in die Situation eines typischen Caper-Movies gerät, ist er überfordert. Das tragische Ende wird erst dadurch abgewendet, daß sich Lula den mehrfach im Film sowohl in den Dialogen, als auch in Bildzitaten erwähnten WIZARD OF OZ aneignet. In einem Moment kompletter Verzweiflung schlägt sie wie Judy Garland dreimal ihre roten Schuhe aneinander. Ab dieser Szene bestimmt die von Lynch revidierte Version dieses Hollywood-Musical-Märchens die Dramaturgie.

Der Überfall, bei dem Sailor aus dem Weg geräumt werden soll, verwandelt sich in eine cartoonhafte Farce. Bobby Peru schießt sich in bester Looney Tunes-Tradition den eigenen Kopf ab. Sailor wandert erneut in den Knast. Als er nach einigen Jahren Lula, die mittlerweile ihren gemeinsamen Sohn aufgezogen hat,  wiederbegegnet und sie sich nichts mehr zu sagen haben, trennen sich die beiden im Gegensatz zu Giffords Vorlage nur scheinbar. Nachdem Sailor von einer Streetgang verprügelt wurde, erscheint ihm die gute Fee aus dem Land hinter dem Regenbogen. Er kehrt zur im Stau steckengebliebenen Lula zurück und singt für sie Love Me Tender. Marietta, die im Verlauf des Films immer deutlicher die Züge einer bösen Märchenhexe annimmt und sich hysterisch vor dem Spiegel ihr ganzes Gesicht mit Lippenstift beschmiert, löst sich in Luft auf.   

Die amerikanische (Pop-)Geschichte ist in WILD AT HEART in ihrer medialisierten Form omnipräsent. Lynch stellt einerseits den Retro-Charakter dieser Bezüge durch ihre Oberflächlichkeit ironisch aus, definiert ihren Gebrauch aber zugleich um, indem er sie auf einer abstrakteren Ebene wieder ernstnimmt. Dieser Strategie entspricht auf dem Soundtrack der Song Wicked Game von Chris Isaak, der zwar deutlich auf Elvis-Balladen Bezug nimmt, im Film aber in einer Szene zum Einsatz kommt, die radikal von den Nicolas Cage-Performances abweicht. Auf ihrer Fahrt nach Westen passieren Sailor und Lula nachts auf einem einsamen Highway ein unheimliches Szenario, in dem Tragik und Absurdität unmittelbar aufeinanderprallen. Die einzige Überlebende eines schweren Autocrashs (Sherilyn Fenn) läuft blutüberströmt am Unfallort auf der Suche nach ihrer verlorenen Handtasche und ihren Schminkutensilien herum. Sailor und Lula erkennen, daß sie jeden Moment ihren schweren Verletzungen erliegen wird. Angesichts der traumatischen Unfähigkeit des Unfallopfers die eigene Situation zu erkennen, können die beiden nur mit hilfloser Resignation reagieren.

Diese Risse der postmodernen Genrecollage verweisen auf andere scheinbar marginale Geschichten, jenseits des grotesken Familienmelodrams, das sich vom Road Movie in ein Gangsterdrama und schließlich mit Hilfe des Zauberers von Oz (oder wer auch immer Sailor in einem entscheidenden Moment durch die Kristallkugel beobachtet) in das zauberhafte Land verwandelt. Allein die kurze Episode um Johnny Farragut und die Erzählung von Lulas Cousin, der vor seinem spurlosen Verschwinden diverse paranoide Verschwörungsmythen herbeiphantasiert, ergeben eigene separate Kurzgeschichten.

In der Romanvorlage ließ Barry Gifford Handlungsfäden offen, die er später wieder aufgriff. Die Hintergrundgeschichte der Latino-Gangsterin Perdita Durango, die kurz als Bobby Perus Partnerin auftritt, kann man in WILD AT HEART hinter dem eleganten Spiel von Isabella Rossellini nur erahnen. Nach dem gescheiterten Überfall flüchtet sie einfach aus dem Film. Erst einige Jahre später kehrte dieser schillernde Charakter durch die literarische Hintertür zurück. Barry Gifford setzte ihre Geschichte in dem 1991 erschienen Roman 59° and Raining - The Story of Perdita Durango fort. Die filmische Umsetzung übernahm 1997 Alex De La Iglesia (ACCION MUTANTE, EL DIA DE LA BESTIA). Die Besetzung der Titelrolle mit der überwältigenden Rosie Perez (DO THE RIGHT THING) orientiert sich eng an der literarischen Vorlage.

Obwohl sich in PERDITA DURANGO einige entfernt an Lynch erinnernde, absurd-irrwitzige Momente finden, weicht in De la Iglesias Gangsterballade über verlorene Outcasts im mexikanischen Grenzland das ironische Spiel mit Naivität einer desillusionierten Melancholie, die sich streckenweise in aggressive Dynamik entlädt. Perdita und ihr Latin Lover, der Dealer und Santeria-Priester Romeo Dolorosa (Javier Bardem), bilden den dunklen Gegenpol zu Sailor und Lula. Ihr Kosmos setzt sich aus verdrängten Mythen der Pop- und Trashgeschichte zusammen, für die in Sailor und Lulas Land hinter dem Regenbogen kein Platz ist. Die Outlaw-Geschichten um die Schwelle zwischen den USA und Mexiko, derer sich Perdita und Romeo bedienen, schwelgen nicht in den opulenten Gesten Sailors und Lulas. Keine gute Fee am Ende des Lost Highway, keine Marlon Brando-Schlangenlederjacke aus dem Fundus der großen Kinorebellen, sondern ein abgegriffenes Panini-artiges Klebebildalbum mit aztekischem Heiligenkitsch und die vage Erinnerung an Burt Lancaster in dem Westernklassiker VERA CRUZ bestimmen das Leben und Sterben des von Almodovar-Darsteller Bardem (LIVE FLESH) mit unheimlicher Intensität verkörperten Maniacs Romeo Dolorosa. Während in WILD AT HEART beinahe der gesamte filmische Kosmos aus Zitaten und medialen Querverweisen besteht, und sogar eine Trash-Metal-Combo plötzlich von treibenden Riffs zu harmonischen Elvis-Schnulzen wechseln kann, bewegt sich PERDITA DURANGO durch eine triste, aber zugleich auch lyrische Ruinenlandschaft, in der Outlaw-Mythen nur noch als Projektionen existieren.

Den Romanen Giffords entsprechend bewegt sich die Brutalität zwischen abrupten comichaften Gewaltausbrüchen und sich überraschend einstellenden, beklemmenden Momenten. Wenn Perdita und Romeo ein mittelständisches Teenager-Pärchen kidnappen und ihnen ein “Weihnachten  in der Hölle” versprechen, inszeniert De La Iglesia die Entführung anfangs als trashige Konfrontation der Latino-Outlaws, begleitet von Blues-Legende Screamin´Jay Hawkins (MYSTERY TRAIN) als Romeos Assistent, mit der Plüsch-und Plastikwelt Suburbias. Daß sich der für ein Santerio-Opfer vorgesehene Junge Duane mehrfach politisch korrekt für die Ungerechtigkeiten der Kolonisierung entschuldigt, interessiert Perdita und Romeo reichlich wenig. Als sich herausstellt, daß die Gangster ausgerechnet das gleiche Herb Alpert-Stück zu ihren Lieblingssongs zählen, das der Vater der entführten Estelle immer wieder forciert herbeizitierte, erweisen sich die in WILD AT HEART ästhetisch noch voneinander getrennten Zuschreibungen in Sachen Popkultur endgültig als hochgradig ambivalent. Romeos Verhältnis zu Herb Alpert und Burt Lancaster gestaltet sich jenseits der unverbindlichen Anspielungen einer reinen Spiel- und Spaßpostmoderne.

De La Iglesia und Gifford arbeiten in ihrer Adaption von PERDITA DURANGO auf Grund der verstörenden Intensität des Films außerhalb der kultindustriellen Verwertbarkeit, die zahlreichen Tarantino-Epigonen einen faden Beigeschmack verleiht. Die Gewalt wechselt ständig zwischen befreiender Slapstick und unerwarteter Härte, die in einigen Szenen durchaus unter die Haut geht. Nachdem die beiden entführten Teenager anfangs als reines Camp-Motiv eingeführt wurden, ändert sich ihre Rolle nach einer brutalen Doppelvergewaltigung abrupt. Die Situation der anfangs schablonenhaften Charaktere gestaltet sich unerwartet bedrohlich mit dem Resultat, daß die Vereitlung des bereits angesetzten Opfers durch eine gegnerische Bande regelrecht befreiend wirkt. Während der gemeinsamen Fahrt nach Las Vegas bahnt sich langsam ein ambivalenteres Verhältnis zwischen den Entführten und dem  Gangsterpaar an.

Im Gegensatz zum ausufernden Kosmos von WILD AT HEART verengen sich in PERDITA DURANGO die Handlungsmöglichkeiten der Protagonisten mit dem weiteren Verlauf der Geschichte.  Das einzige, was Romeo kurz vor seinem Tod in einer tristen Fabrikhalle bleibt, ist die verschwommene Erinnerung an einen Magic Moment. Er sieht sich selbst in der Rolle des sterbenden Burt Lancasters in VERA CRUZ. Perdita, die zusammen mit dem Teenager-Pärchen bei einem Freund wartet, läßt in einer Vorahnung des tragischen Geschehens Duane und Estelle frei.

Barry Gifford beschreibt Perdita Durango als “Überlebenskünstlerin, die unversehrt aus allem herauskommt und sich im Lauf der Geschichte weiterentwickelt.  Eine Frau mit einer sehr starken Persönlichkeit, die es gelernt hat in dieser unerträglichen Machowelt zu überleben.”  Wenn Perdita in der letzten Sequenz alleine durch Las Vegas zieht, jene Stadt, die Lynch als kennzeichnend für die Figur Sailors in WILD AT HEART bezeichnete, formulieren Iglesia und Gifford die ergänzende Antithese zum Ende des Lynch-Films. Sailor und Lula konnten sich den WIZARD OF OZ und somit das Happy End aneignen. Die Odyssee Perdita Durangos geht weiter. Der teilweise im blinden Leerlauf praktizierte Versuch den Outlaw-Mythos noch einmal zu beleben endet lethargisch in der Glamour-Metropole Nevadas.

 

Postmoderne Prime-Time - TWIN PEAKS

„Ich verstehe zwar überhaupt nicht, worum es geht, aber irgendwie faszinierend.“
Homer Simpson über die Serie TWIN PEAKS

„Ich habe keine Ahnung, was da abläuft, ich habe nicht den geringsten Schimmer, was ich da eigentlich gesehen habe, aber ich bin in einem absoluten Schwebezustand aus dem Film herausgekommen.“
Jacques Rivette über den Film TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME

Der von 1989 bis 1991 entstandene, 29-teilige Serienzyklus TWIN PEAKS stellt sowohl den Höhepunkt, als auch bereits den Rückgang Lynchs immenser Popularität Anfang der 90er dar. 1990 erhielt er für WILD AT HEART in Cannes die Goldene Palme und etablierte sich in Europa als gefeierter auteur der amerikanischen Weirdness. Der Pilotfilm zu TWIN PEAKS lief mit großem Erfolg auf einigen Festivals und die einige Monate später in Produktion gegangene Serie entwickelte sich zum Kultphänomen. Die Frage, „Who killed Laura Palmer ?“ ging in die Fernsehgeschichte ein und wurde von den ausgefallensten Merchandisingartikeln begleitet. Neben dem für die Serie obligatorischen Kirschkuchen und Donughts, zählten auch das von Lynchs Tochter Jennifer verfaßte Tagebuch der Ermordeten, die Autobiographie des Agent Dale Coopers oder sein liebevoll mit dem Namen Diane angesprochenes Diktiergerät zum Sortiment an Produkten. Das Provinznest Snoqualmi im Nordwesten der USA wurde zur Touristenattraktion für zahlreiche TWIN PEAKS-Fans, in dem bis heute jährliche Conventions abgehalten werden.

Es schien, als hätte Lynch erfolgreich seine eigene Nische zwischen Kunst und Kommerz gefunden und erfolgreich besetzt. Doch als nach 16 Folgen die Frage nach der Identität von Laura Palmers Mörder geklärt war, sank das Zuschauerinteresse rapide, bis schließlich die Serie vorzeitig eingestellt wurde. 1992 folgte der bis heute völlig unterschätzte TWIN PEAKS-Film FIRE WALK WITH ME, der sich für Lynch zum Fiasko bei Publikum und Kritik entwickelte, und in einer beinahe fünfjährigen kreativen Pause resultierte.

Die Serie um eine eigenartige Kleinstadt im Nordwesten der USA, nahe der kanadischen Grenze, in der sich hinter der idyllischen Oberfläche aus malerischem Sägewerk und eindrucksvollem Wasserfall die Abgründe des Grauens und des Absurden auftun, hat jedoch eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Jene übernatürlichen Elemente, die in TWIN PEAKS lediglich einige Handlungsstränge prägten, bilden inzwischen die Grundlage für zahlreiche Mystery-Serien, in denen Motive, die Lynch und sein Partner Mark Frost lediglich aus einiger Distanz heraus einbauten, wieder mit ungebrochenem Ernst behandelt werden.

Der Reiz von TWIN PEAKS liegt jedoch gerade darin, daß die eigenwillige Mischung aus Soap Opera, Detektivgeschichte und übernatürlichem Thriller, sich keinem Genre eindeutig zuordnen läßt. Einerseits bleibt die Konstruktion einiger Plotelemente wie etwa der melodramatischen Versatzstücke auf Grund ihres Zitatcharakters weitgehend durchschaubar, doch beschränken sich die Protagonisten nicht auf selbstreferentielle Abziehbilder, sondern transportieren wie auch andere Lynch-Helden zugleich die emotionale Tiefe der bemühten Codes. Auf diese Weise halten Lynch und Frost die dramatisch aufgeladenen Szenen in der Schwebe zwischen ironischer Distanz und tatsächlicher Ergriffenheit, die sich einstellt, wenn den Zuschauer der existentielle Kitsch, verstärkt durch die eingängigen, angejazzten Soundtrackthemen des Lynch-Hauskomponisten Angelo Badalamentis, doch noch überrollt.

Diese Strategie verdeutlichen bereits die ersten Szenen des Pilotfilms. Eines Morgens entdeckt Pete Martell (Jack Nance in einer seiner letzten großen Rollen) am Ufer des Flusses den Leichnam der Highschool-Schönheit und Homecoming Queen Laura Palmer (Sheryl Lee), eingewickelt in Plastik (Diese Phrase lieferte auch den Titel für das bis heute erscheinende, sehr lesenswerte Lynch / TWIN PEAKS-Fanzine Wrapped in Plastic). Bereits als die örtlichen Polizisten, angeführt von Sheriff Truman (Michael Ontkean) und seinen Deputies, die Spurensicherung aufnehmen, bricht der Deputy Andy lautstark in Tränen aus. Die Hysterie steigert sich später, wenn Lauras Eltern Leland (Ray Wise) und Sarah Palmer (Grace Zabriskie) verständigt werden. In einer schier endlosen Einstellung zeigt Lynch den Zusammenbruch Sarahs am Telefon, während die Kamera den pendelnden Hörer in Großaufnahme ins Visier nimmt. Wenn in der anschließenden Sequenz in der Schule Donna (Lara Flynn Boyle) und Lauras heimlicher Liebhaber James Hurley (James Marshall) von ihrem Tod erfahren, deuten der leere Stuhl und das anschwellende Laura Palmer Theme Badalamentis bereits die Katastrophe an. Für die Inszenierung dieser Exposition nimmt sich Lynch ausgiebig Zeit und verfolgt wie im gesamten Pilotfilm einen konsequenten Fake-Realismus. Die Regeln der Soap-Opera bringt er durch ihre gezielte Übersteigerung zum Kollabieren, ohne dabei die Situation der Lächerlichkeit preiszugeben. Seinen Darstellern gelingt es tatsächlich Trauer zu vermitteln, doch durchzieht diese nach den klassischen Regeln Lynchlands zugleich ein absurder Beigeschmack. Deputy Andy bricht nicht nur beim Anblick Laura Palmers, sondern grundsätzlich bei der Untersuchung jeder Leiche in lautes Schluchzen aus und hat damit die Funktionsmechanismen der Durchschnitts-Soap Opera perfekt internalisiert.

Bei Lynch und Frost ergänzen sich Tragödie und Absurdität, wie später auch in Lars von Triers Krankenhaus-Horror-Groteske KINGDOM (Geister, 1994-1997) zwangsläufig. Mit der Ankunft des smarten FBI-Agenten Dale Coopers (Kyle MacLachlan in jener Rolle, der er bis heute vergeblich zu entkommen versucht) in TWIN PEAKS nimmt der zentrale Plot der Serie seinen Lauf. Die Frage nach dem Mörder Laura Palmers betrachteten Lynch und Frost eigentlich nur als Aufhänger für die Erkundung des Ortes, wie der Regisseur im Interview mit Chris Rodley erklärte. Als erstes existierten der Stadtplan und die Charakterskizzen der Einwohner. Cooper beschreibt die Stadt im Pilotfilm treffend als einen „Ort, wo eine gelbe Ampel nicht bedeutet, daß man noch Gas gibt, sondern daß man langsamer wird.“

Doch wie es auf Grund der Erfahrungen mit der ähnlich properen Fassade der Stadt Lumberton aus BLUE VELVET nicht anders zu erwarten ist, täuscht auch in TWIN PEAKS die Idylle. Die Suche Coopers und Sheriff Trumans nach Clues entwickelt sich zu einer immer absurderen und unheimlicheren Odyssee. TWIN PEAKS bietet sowohl auf der visuellen, als auch der inhaltlichen Ebene den perfektionierten Katalog der sogenannten Lynchismen. In dem Club Roadhouse geben sich die Biker, zu denen auch Lauras heimlicher Liebhaber James zählt, gedankenverloren den stilisiert kitschigen Songs von Julee Cruise hin. Der „offizielle“ Freund der Ermordeten Bobby Briggs (Dana Ashbrook) entpuppt sich hingegen als der örtliche Nachwuchsdealer, der mit seiner Rebel Hero-Rolle auf Grund seiner Unbeherrschtheit nicht immer ganz zurecht kommt. Natürlich kommt im Verlauf der Ermittlungen heraus, daß jeder auf irgendeine Weise in den Fall verstrickt war, dem späteren Slogan des Kinofilms entsprechend, „In a town like TWIN PEAKS, no one is innocent.“ - Der adrette Unternehmer Ben Horne (Richard Beymer) unterhielt nicht nur eine Liebesbeziehung mit der Verstorbenen, sondern betreibt neben den üblichen Geschäftsintrigen auch ein Bordell hinter der kanadischen Grenze, in dem Laura bis kurz vor ihrem gewaltsamen Tod aktiv war. Hornes charismatische Tochter Audrey (Sherilyn Fenn) verschlägt es bei ihren Nachforschungen über das Schicksal ihrer Schulfreundin ebenfalls dorthin, wo es inkognito beinahe zum tête-à-tête mit ihrem eigenen Vater kommt. Das weibliche Gegenstück zu Ben Horne bildet seine heimliche Geliebte und Rivalin Catherine Martell (Piper CARRIE Laurie), die sich mit ihrer Gegenspielerin, der geheimnisvollen Schönheit Josie (Joan Chen), erbitterte Kämpfe um das Sägewerk liefert.

Als sie auf Grund einer gefährlichen Intrige ihren eigenen Tod vortäuscht, kehrt sie einige Folgen später als japanischer Geschäftsmann verkleidet wieder zurück und setzt Horne unter Druck. Daß andere TWIN PEAKS-Bewohner, die nicht ins organisierte Verbrechen involviert sind, sich wie die Log Lady (Catherine Coulson) mit Baumstämmen über die Zukunft unterhalten, ihren Lebenszweck darin sehen die Wohnzimmergardinen gerade zu ziehen wie Nadine Hurley (Wendy Robie) oder zwischendurch für ein paar Tage von UFOs entführt werden wie Major Briggs (Don Davis) gehört zum Alltag in Lynchland. Wenn Sheriff Trumans Sekretärin Lucy (Kim Robertson) aus Versehen die Ereignisse in der TWIN PEAKS-eigenen Soap Opera-Invitation to Love, anstelle der neuesten Fakten im Mordfall Laura Palmer zusammenfaßt, erscheint diese Verwechslung auf Grund des ganzen Trubels durchaus nachvollziehbar.

Lynch und Frost etablieren in den ersten Folgen für die Serie charakteristische, wiederkehrende Bild-und Handlungsmotive, die den TWIN PEAKS-Kosmos definieren: Zu den Markenzeichen gehören ritualisierte Kaffee, Kirschkuchen und Doughnut-Menüs, die in einer späteren Episode besonders abstruse Züge annehmen, wenn die Kamera über eine ganze Armada von symmetrisch aufgestellten Süßigkeiten fährt und auf der Tonspur dazu der detaillierte Ablauf der Mordnacht beschrieben wird. Auch andere Ansichten wie der tosende Wasserfall, der in einigen Sequenzen übernatürliche Ereignisse ankündigt, eine mitten im Wald befestigte, an einer Schnur baumelnde Ampel, das Sägewerk und immer wieder der aus den Wäldern um TWIN PEAKS aufsteigende Nebel prägen das Gesamtbild der Serie.

Agent Cooper, der im Gegensatz zu einigen seiner FBI-Kollegen, allen voran der Zyniker Albert Rosenfield (Miguel Ferrer), über hervorrgagende social skills verfügt, zeigt im Verlauf der weiteren Folgen zunehmend merkwürdigere Eigenschaften. Neben den regelmäßigen, vertraulichen Gesprächen mit seinem Diktiergerät Diane, demonstriert er in der dritten Episode Zen oder die Kunst einen Mörder zu jagen, wie er mit tibetanischen Meditationen den gesuchten Verbrecher ausfindig machen will. In einer reichlich eigenartigen Demonstration dieser Methode werden auf einer Tafel die Namen der potentiellen Verdächtigen festgehalten, während Cooper mit Steinen auf eine Flasche zielt. Als diese schließlich zerspringt, führt die Spur tatsächlich zum nächsten Clue im Mordfall mit ungewissem Ausgang. Doch diese unkonventionellen Ermittlungsmethoden erscheinen im Vergleich zum weiteren Verlauf des Falls noch relativ harmlos.

 

Die Spur führt ad absurdum oder die Kunst einen Mörder zu finden

Der Mörder selbst spielt in TWIN PEAKS vorerst keine Rolle. Er funktioniert vielmehr als einziger MacGuffin und Anlaß die Stadt und ihre skurrilen Bewohner näher kennenzulernen. Die Besetzung Frank Silvas als Killer Bob, der als Mitglied des Ausstatterteams in den Kulissen gefangen war und von Lynch spontan zum Mörder Lauras erklärt wurde, gehört mittlerweile zu den Standard-Anekdoten um die Serie. Für die internationale Videoversion des Pilotfilms mußte Lynch einen vorläufigen Schluß finden. Kurzentschlossen drehte er einen Epilog, in dem der neu besetzte Frank Silva, eine imposante Erscheinung in Jeans mit langen grauen Haaren, von einem Einarmigen (Al Strobel) als Lauras Mörder Bob präsentiert wurde. Diese improvisierte Variante der Auflösung nutzte Lynch als Grundlage für den nächsten Schritt im Projekt. Am Ende der dritten Episode wich der scheinbare Realismus, mit dem die Serie das ländliche Amerika präsentierte, einem bizarren, surrealen Spiel mit den Grenzen zwischen Traum und Realität. In einem roten Raum mit den entsprechenden Vorhängen begegnet Cooper im Schlaf einem tanzenden Zwerg - dem Man From Another Place (Michael J. Anderson), der ihm Laura Palmer vorstellt. Diese verrät ihm den Namen ihres Mörders, doch als Cooper schweißgebadet aufwacht, hat er ihn natürlich vergessen. Im späteren Verlauf der Serie wird sich der rote Raum als die jenseitige Black Lodge entpuppen, Heimat des Killers Bob und eines ganzen Ensembles geisterhafter Gestalten, zu denen auch der Einarmige als Wanderer zwischen den Welten zählt.

Mit der Einführung des Red Rooms und seiner rückwärts sprechenden Bewohner nehmen die jenseitigen Räume bei Lynch endgültig reale Gestalt an. Während Frank Booth in BLUE VELVET noch als dämonisierte Variante des Bösen in Erscheinung trat, kommt der Killer Bob tatsächlich aus einer Dimension zwischen Leben und Tod. Doch beschränkt sich der Einsatz dieser übernatürlichen Elemente nicht auf handelsübliche Mystery-Klischees, sondern wird von einem psychologischen Subtext unterstützt, der die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst. Der unheimliche Killer aus den Wäldern um TWIN PEAKS hat bereits vor Jahren von Leland Palmer Besitz ergriffen und in diesem Körper Laura mehrfach vergewaltigt und schließlich, als aus ihren Tagebucheinträgen hervorging, daß ihr Bobs wahre Identität  bekannt ist, ermordet. Die skurrile Detektivgeschichte verwandelt sich mit dieser Auflösung und erst recht in dem Kino-Prequel FIRE WALK WITH ME in ein düsteres Inszestdrama.

Das Böse kommt nur auf der Gothic-Horrorebene aus einer fremden, rätselhaften Welt. In Gestalt Lelands war es bereits die ganze Zeit Bestandteil des ganz alltäglichen, familiären Horrors im Haus der Palmers.

Vor der Entlarvung Lelands als Mörder muß sich Agent Cooper noch bis zur sechzehnten Folge auf eine surrealistische Spurensuche durch TWIN PEAKS und Umgebung begeben. Als Cliffhanger im Übergang zur zweiten Season wird er von einem vermummten Attentäter in seinem Hotelzimmer angeschossen. Dieser Spannungseffekt wirkt selbst wie eine zitathafte Anspielung auf die Soap-Opera DALLAS, in der erstmals 1979 genau dieses offene Ende als Teaser für die nächste Staffel verwendet wurde. Doch zu Beginn der Fortsetzung im erneut von Lynch inszenierten zweiten Pilotfilm Der Riese sei mit dir scheint das Attentat auf Cooper nicht mehr sonderlich zu interessieren. Stattdessen verwandelt sich das Szenario mit dem schwer verwundet am Boden seines Hotelzimmers liegenden Cooper erneut in eine Groteske zwischen Persiflage und Lynchscher Suspense. Zuerst sucht ein etwas seniler Kellner das Zimmer auf und serviert dem angeschossenen Agenten ein Glas Milch. An der Aufgabe Hilfe zu holen scheitert er jedoch völlig. Der Zimmerservice der seltsamen Art dient als Vorbote eines mysteriösen Riesen, der sich später auch als Bewohner des Red Rooms entpuppt. Er überbringt Cooper drei rätselhafte Hinweise, von denen einer lautet: „Die Eulen sind nicht was sie scheinen.“ - Dieses Arrangement von Clues erscheint typisch für TWIN PEAKS. Nie kann man sich sicher sein, welche Spuren eine echte Relevanz haben und welche lediglich kuriose Wortspiele darstellen.

Zu den bizarrsten Momenten der Serie gehört die Überführung Lelands als Killer Bob. Mit Hilfe des Riesen und Major Briggs kann Cooper in einer Art okkulten Versuchsanordnung endlich die unverständliche Botschaft Laura Palmers aus seinem Traum entschlüsseln und erkennt die wahre Identität Lelands, nicht ohne daß diesem vorher der zum Riesen zugehörige Portier erklärt: „Deine Lieblingsfernsehsendung wird schon bald wieder zurückkommen.“ Nachdem Leland verhaftet wurde, gibt Bob seinen Wirtskörper auf und tötet ihn in einer melodramatischen Sterbeszene, die noch einmal prägnant die stilistischen Strategien von TWIN PEAKS vorführt. Bereits zuvor erfährt man, daß der Feuermelder in der Polizeistation einen Defekt hat. Als in einem anderen Zimmer jemand eine Zigarette anzündet, werden auch in Lelands Zelle die Löschvorrichtungen aktiviert und schon regnen melodramatisch die Wasserfontänen auf Cooper und den sterbenden Mörder hinab. Nachdem Bob den Körper des verstorbenen Lelands verlassen hat, rätseln Cooper und seine Begleiter über die wahren Umstände des Mordes an Laura. Der fest auf dem Boden der Tatsachen stehende Truman zweifelt an der Existenz Bobs, für ihn war Leland einfach wahnsinnig. Der FBI-Agent Albert Rosenfield hingegen akzeptiert zwar die Möglichkeit von Bobs Existenz, sieht in ihm jedoch vielmehr auf abstrakte Weise ein Sinnbild für das Böse in der Welt. Diese offenen Assoziationen stehen in TWIN PEAKS einfach nebeneinander, ohne daß sich Lynch und Frost auf eine der angebotenen Deutungen einlassen. Obwohl am Ende der Serie kein Zweifel an der realen Existenz der Mächte aus dem Red Room mehr besteht, bleibt ihr Hintergrund dennoch ambivalent. Sie lassen sich sowohl als psychologisches Sinnbild, wie auch als dämonische Mächte im Stil der Cenobiten aus Clive Barkers HELLRAISER deuten. Diese Mehrfachcodierung wird einige Jahre später in LOST HIGHWAY eine entscheidende Rolle spielen.

Für die Zeit nach der Auflösung des Mordfalls hatte man bereits eine Hintertür offengelassen, um TWIN PEAKS fortzusetzen, doch leider erwies sich das Konzept als nicht ausgereift genug, um die ganze Serie weiterzutragen. Der an Dr.Moriarty angelehnte geniale Verbrecher Windom Earle (Kenneth Welsh), der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat den Eingang zur Black Lodge zu finden, tritt als Coopers Erzfeind auf den Plan. Während der Schlagabtausch zwischen dem abtrünnigen FBI-Agenten Earle und seinem ehemaligen Partner Cooper, die ein dunkles Geheimnis um Earles verstorbene Frau Caroline verbindet, durchaus reizvoll als überdimensionale, tödliche Schachpartie abläuft, entglitten jedoch einige Fäden der Narration. TWIN PEAKS stand im Zwiespalt zwischen einem abgeschlossenen Plot, der genau die Auflösung des Mordes an Laura Palmer umfaßt hätte, und dem Ausbau zur eigenständigen Serienwelt. Dafür gingen jedoch trotz der Mithilfe engagierter Gastregisseure langsam die Geschichten aus. Lynch zog sich im Lauf der zweiten Staffel aus der Produktion weitgehend zurück, um WILD AT HEART zu drehen. Insgesamt führte er bei sechs Episoden Regie, darunter die beiden Pilotfilme und die letzte Folge. Im weiteren Verlauf der Serie übernahm in erster Linie Co-Produzent und Autor Mark Frost die weitere Gestaltung. Lynch trat jedoch weiter in einigen Episoden als Schauspieler in der Rolle von Coopers schwerhörigem Vorgesetzten Gordon Cole auf.

In den späteren Episoden gelang der innovative Umgang mit der Umdeutung herkömmlicher TV-Serien nicht immer überzeugend. Vielmehr entsprachen Handlungsfäden wie etwa die Geschichte der Midlife-Crisis geplagten Nadine Hurley, die nach einem Gedächtnisverlust noch einmal in die High School zurückkehrt, selbst Klischees, die man für typisch Lynch-like hielt. Andere Ideen funktionierten nach wie vor, auch wenn nicht mehr die überraschende Absurdität und der Einfallsreichtum der frühen Episoden erreicht wurde.

Der skrupellose Unternehmer Ben Horne hält sich auf Grund eines Nervenzusammenbruchs für einen General aus dem Bürgerkrieg und wandelt sich nach seiner Heilung vom Fiesling zum bemühten Gutmenschen. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß einige durchaus interessante Charaktere wie Josie Packard oder Audrey Horne reichlich wenig nach der Aufklärung des Mordes an Laura zu tun haben. Audrey bekommt, nachdem sie anfängliche Annäherungsversuche an Agent Cooper aufgegeben hat, ein reichlich belangloses Love Interest verpaßt und Josie stirbt in einer unnötig komplizierten Intrige, an deren Ende ohne genauere Erklärung der Killer Bob erscheint. Der softe Rebell James gerät in ein Film Noir-orientiertes Komplott um eine Femme Fatale, das selbst nach der letzten Episode ohne Auflösung bleibt. Seine neue Freundin Donna versucht hingegen herauszufinden, wer ihr wirklicher Vater ist und bewegt sich in diesem neuen Subplot auf altbekanntem Soap Opera-Terrain. Die Verbindung der Gestalten aus der Black Lodge mit einem konfusen, nie ganz entwickelten UFO-Komplott, in dem Major Briggs eine entscheidende Rolle spielt, markiert bereits die spätere Entwicklung zu Serien wie den X-FILES (Akte X). Für diese sammelt der spätere Fox Mulder-Darsteller David Duchovny bei Lynch und Frost bereits erste Erfahrungen, indem er als transsexueller FBI-Agent die Wälder von TWIN PEAKS unsicher macht.

Erst für die letzte Episode Jenseits von Leben und Tod kehrte Lynch als Regisseur zurück. Offensichtlich plante man ursprünglich eine weitere Fortsetzung, da die offenen Enden der Folge, die unfreiwillig zum Abschluß der Serie werden sollte, nach ganz klassischen TV-Mustern funktionieren: Ben Horne wird bei einem Sturz schwer verletzt und seine Tocher Audrey sogar in die Luft gesprengt. Daß Lynch auf diese erprobte Cliffhanger-Weise das Schicksal seiner Protagonisten besiegeln wollte, erscheint äußerst unwahrscheinlich.

In Jenseits von Leben und Tod entführt Coopers Gegenspieler Windom Earle Annie (Heather BOOGIE NIGHTS Graham), die neue Freundin des smarten Agenten, in die Black Lodge. Das äußerst tragische Finale bildet einen der visuellen Höhepunkte der Serie. Die entscheidende Konfrontation zwischen Cooper und Earle im Red Room entwickelt sich zum abstrakten Showdown. Gleichzeitig zieht Lynch dabei alle Register seines Könnens. Das Geschehen in den kargen Räumen der Black Lodge wirkt aus heutiger Sicht bereits wie eine erste Motivsammlung für LOST HIGHWAY. Während Sheriff Truman und Deputy Andy am Eingang der Black Lodge, der sich in einem Wald mit dem bezeichnenden Namen Ghostwood Forest befindet, auf Cooper warten, irrt dieser durch die schier endlosen, mit roten Vorhängen verzierten, schwarz-weiß gekachelten Gänge des Jenseits. Auf seiner Suche nach Annie begegnet er nicht nur dem obligatorischen Man From Another Place, sondern auch einer Ansammlung von Doppelgängern. Er trifft auf das hysterische Gegenbild zu Laura Palmer, ihren Vater Leland, der mit sanfter Stimme erklärt, er würde nie jemanden umbringen, und schließlich auf die Reinszenierung der traumatischsten Situation seiner Laufbahn: Cooper unterhielt eine geheime Liebesbeziehung zu Earles Frau Caroline, die von ihrem eigenen Gatten ermordet wurde. Eine Reinkarnation Carolines und Annie erscheinen ihm als eine Person und nehmen damit bereits das später in LOST HIGHWAY zentrale Thema der Wiederkehr der ermordeten Renee (Patricia Arquette) als Alice Wakefield vorweg. Als Cooper schließlich Earle findet, fordert dieser als Preis für Annies Leben die Seele seines Gegenspielers. Doch unerwartet macht der Dämon Bob dem Möchtegern-Mephisto einen Strich durch die Rechnung und überwältigt Earle. Der Handel bleibt bestehen. Annie kann gerettet werden. Cooper wird jedoch von seinem dunklen Ebenbild überwältigt. Dieser verläßt an seiner Stelle gemeinsam mit Annie den Red Room. Truman und Andy bringen den vermeintlichen Cooper in sein Hotelzimmer. In der letzten Einstellung der Serie bricht er vom Wahnsinn gezeichnet in schallendes Gelächter aus und erblickt im Spiegel anstelle seines eigenen Profils die heimtückische Visage Bobs. Mit diesem faustischen Pakt endet die Serie und besiegelt somit anscheinend das Schicksal des FBI-Agenten. Auf Grund des kommerziellen Mißerfolgs des Films FIRE WALK WITH ME kam eine Fortsetzung der Geschichte bis heute nicht zustande.

Dennoch nutzte Lynch diese scheinbare Sackgasse produktiv. Den schizophrenen Blick in den Spiegel greift die erste Einstellung zu LOST HIGHWAY wieder auf, in der Fred Madison sichtlich am Ende, bevor die eigentliche Handlung überhaupt einsetzt auf sich selbst blickt. Während in TWIN PEAKS im unbeabsichtigten Finale die Ikonographien von Gut und Böse sich in einem Körper vereinigen, bestimmt in LOST HIGHWAY der schizophrene Blick schließlich den gesamten filmischen Raum und überwindet die Regeln der klassischen Narration. Für seine Kinoadaption der TWIN PEAKS-Geschichte bewegte sich Lynch schließlich zurück in der Zeit und füllte die große Leerstelle aus, die anfangs Zentrum und Antriebsmotor des gesamten Serienkosmos bildete: Sheryl Lee erfüllte die populärste Wasserleiche der Filmgeschichte mit neuem Leben, um die letzten sieben Tage im Leben der Laura Palmer im Kinoformat zu erzählen. 

 

Questions in a World of Blue - FIRE WALK WITH ME

TWIN PEAKS funktioniert nicht nur als „die Vollendung und zugleich die Verwerfung der Postmoderne in Lynchs Schaffen: wir blicken ins New Age und sehen, daß wir darin nicht zu retten sind.“, wie Georg Seeßlen in einer Analyse die Serie zusammenfaßt, sondern bildet  zugleich eine Work-in-Progress, die sich gegen Ende der zweiten Staffel in der selbstgeschaffenen Sackgasse verlief. Die Einführung eines UFO-Komplotts als Hintergrund für die Suche nach der Black Lodge konnte nur entweder in esoterisches Geraune oder Trash führen, denn im Gegensatz zu den X-FILES, die zwischen ironischer Distanz und klassischem Paranoiakino pendeln, war der Red Room nie auf unheimliche Begegnungen der dritten Art ausgelegt. Diese Krise der steckengebliebenen Handlungsfäden nach Abschluß von TWIN PEAKS kennzeichnet das Dilemma, in dem sich Lynch zu dieser Zeit befand.

Einerseits drang durch die Serie sein Stil bis in die Bereiche des Prime Time-Fernsehens vor, doch gleichzeitig drohten auch seine Ideen zu stagnieren und berechenbare Lynchismen zu werden. Schließlich entschied er sich 1992 als ersten Film eines Deals mit der französischen Produktionsfirma Ciby 2000 entgegen allen kommerziellen Erwartungen ein Prequel zu TWIN PEAKS mit dem Titel FIRE WALK WITH ME zu drehen. Der sowohl von der Kritik als auch dem Publikum weitgehend geschmähte Film, der erst in den letzten Jahren langsam die verdiente Beachtung erfuhr, dekonstruiert radikal die Ästhetik der eigenen Fernsehserie, bis schließlich nur noch die düstere Inzest-Geschichte in Szene gesetzt als surrealer Alptraum übrigbleibt. Da die Handlung weitgehend aus der Serie bekannt ist, beziehungsweise die Ausgangslage entsprechend schnell im Kino etabliert wird, konzentriert sich Lynch ganz auf die Inszenierung, in der er einige seiner verstörendsten Momente seit ERASERHEAD erreicht.

In einer lyrischen Sequenz fragt Donna (die jüngere Moira Kelly ersetzte Lara Flynn Boyle) Laura, ob man beim freien Fall durchs All langsamer oder schneller werden würde. Apathisch antwortet sie, daß die Geschwindigkeit des Sturzes immer stärker zunehmen würde, bis man in Flammen aufgeht und die Engel würden einem nicht helfen. Genau dieser Fallbewegung folgt Lynchs wehmütiger Abschied von TWIN PEAKS aus der radikal durchgehaltenen subjektiven Sicht Lauras. Weder das Polizeirevier mit Sheriff Truman und seinen Deputies, die im Fernsehen immer für einen comic relief zu haben waren, noch die Kultobjekte Kaffee, Doughnuts und Kirschkuchen kommen im Hauptteil des Films vor. Das TWIN PEAKS in den letzten Tagen Laura Palmers gleicht einer Geisterstadt, in der sich der ausweglose Blick zunehmend auf die klaustrophobischen Innenräume beschränkt

Der explodierende Fernseher in der ersten Sequenz, über dessen Flimmern noch die Credits zu einem langsamen Blues-Thema abliefen, steht programmatisch für den gesamten Film. Im ersten Drittel von FIRE WALK WITH ME demontiert Lynch die eigene vertraute Ästhetik aus der Fernsehserie. Eine der ersten Einstellungen zeigt Lynch in der Rolle des Gordon Cole im FBI-Hauptquartier. Das vermeintliche Naturpanorama im Hintergrund entpuppt sich im Gegensatz zu den eindrucksvollen Landschaften zu Beginn der TV-Serie als abgegriffene Tapete. Nach der Ermordung der jungen Theresa Banks, die ein Jahr vor dem Tod Laura Palmers ebenfalls in einem Plastiksack auf dem Wasser treibend aufgefunden wird, schickt Cole den Agenten Chester Desmonds (Chris Isaak) nach Deer Meadow. Den Auftrag präsentiert Lynch persönlich durch eine camphafte Tänzerin, deren seltsame Darbietung Desmond in Rekordgeschwindigkeit entschlüsseln kann, bis auf ein entscheidendes Detail - die blaue Rose an ihrem roten Kleid. Durch diese Sequenz führt Lynch die Regeln der surrealen Spurensuche aus der Serie ad absurdum. Desmond scheitert nicht zuletzt daran, daß er im Gegensatz zu seinem Kollegen Cooper nicht mit einem Fall der blauen Rose umgehen kann.

Das Provinznest Deer Meadow bildet das konsequente Gegenbild zu TWIN PEAKS, ebenso wie die rabiaten Methoden Desmonds dazu führen, daß sich die örtlichen Behörden erst gar nicht auf eine Kooperation mit ihm einlassen. Das Sheriffbüro ist eine karikaturhafte Antithese zur gemütlichen Zentrale Trumans. Der einzige vorhandene Kaffee erweist sich als abgestanden und die Polizeibeamten begegnen Desmond und seinem ungeschickten Partner Stanley (Kiefer Sutherland) ablehnend bis feindselig. Auch die Inhaberin des lokalen Diners erklärt auf die Frage nach den besonderen Spezialitäten, daß es keine gibt. Die defekte, blinkende Lampe im Hintergrund erzielt im Gegensatz zu früheren Filmen Lynchs und der Serie keinen Effekt, sondern verweist nur noch auf sich selbst. Im Drehbuch ging die Szene ursprünglich sogar so weit, daß sich Agent Desmond und Stanley darüber unterhalten, ob die Lampe wirklich kaputt ist oder nicht vielleicht doch nur aus ästhetischen Gründen daran rumgebastelt wird. Lynch übersteigert systematisch die narrative Krise, in der sich die Serie in ihren letzten Episoden befand, und macht sie auf diese Weise nutzbar. In FIRE WALK WITH ME existieren die verschienden Bestandteile Lynchlands zwar noch, sie sind jedoch noch deutlicher als in LOST HIGHWAY voneinander getrennt. Nach dem absurden Einstieg verschwindet Agent Desmond spurlos aus dem Film.

In der FBI-Zentrale überträgt Lynch / Cole den Fall schließlich Agent Cooper. Doch auch das Zentrum der aufgeklärten Rationalität wird von dem Blue Rose Case aus den Fugen gebracht, so daß nicht einmal der ebenfalls anwesende professionelle Zyniker Albert Rosenfield die Situation klären kann. Die Agenten erhalten Besuch von dem seit Jahren verschollenen Ermittler Phillip Jeffries (David Bowie in einem extrem knapp bemessenen Cameo-Auftritt). Dieser fiel wie auch Agent Desmond den Mächten aus der Black Lodge zum Opfer. Lynch zerstört in dieser Sequenz zunehmend die räumliche und zeitliche Wahrnehmung. Flimmernde Störsignale zersetzen das Bild auf der Leinwand und die Kamera kreist, begleitet vom Saxophon geprägten Main Theme des Films, um die an einem Tisch versammelten Bewohner der Black Lodge. Der Killer Bob und der Man From Another Place betreten durch eine Öffnung den Red Room. Die FBI-Agenten sind danach zur Passivität verdammt. Cooper tritt zwar noch im jenseitigen Wartesaal zwischen Black und White Lodge in Erscheinung. Doch da in diesem Handlungsraum die Regeln von Raum und Zeit aufgehoben sind, handelt es sich wahrscheinlich vielmehr um den seit der letzten Episode in der Lodge gefangenen Cooper, wie auch die kurze Erscheinung von Annie in Lauras Schlafzimmer andeutet.

Als Cooper in Deer Meadow eintrifft, kann er seinem Diktiergerät Diane nur noch die vorläufige Resignation anvertrauen. Der Mörder wird wieder zuschlagen, aber, wie es in einem Song heißt, niemand weiß wo und wann. Gleichzeitig handelt es sich bei dieser Szene um die letzte exakte Zeitangabe. Obwohl der Untertitel des Films andeutet, daß es sich um die letzten sieben Tage im Leben Laura Palmers handelt, läßt sich mit dem Eintauchen in ihre subjektive Sicht auch nicht mehr der Zeitraum der Narration genau erfassen.

Auf dem Soundtrack setzt bereits das vertraute TWIN PEAKS-Thema ein und leitet den Wechsel zum aus der TV-Serie bekannten Establishing Shot des Ortsschilds über. Doch es folgt kein romantischer Blick auf das Sägewerk und den Wasserfall wie in der Fernsehversion. Stattdessen begleitet die Kamera Laura Palmer und Donna auf ihrem Weg durch TWIN PEAKS. Lynchs Blick auf das verlassene Zentrum des zukünftigen Geschehens bestimmt ein feinfühlig realisierter melancholischer Unterton. Während dieser Sequenz nimmt die Kamera bereits die subjektive Sicht Lauras ein, die zunehmend den gesamten Film bestimmen wird. Zahlreiche sympathisch-verschrobenen Kennzeichen und charakteristischen Schauplätze der Serie, mitsamt ihren Protagonisten, die immer wieder für eine komische Durchbrechung der düsteren Stränge des Plots gut waren, spart FIRE WALK WITH ME systematisch aus. Lynch unterläuft durch seine Konzentration auf das Leben und Sterben Laura Palmers konsequent sämtliche kommerziellen Erwartungshaltungen. Weder das Sheriff-Department, noch das Great Northern Hotel oder das Sägewerk mit den Sicherheit verschaffenden Soap Opera-Komplotten um Benjamin Horne und Catherine Martell tauchen im Film auf. In seiner radikalen Subjektivität nähert sich der Film vielmehr wieder der verstörenden Kompromißlosigkeit ERASERHEADS an, als die etablierten Kennzeichen der TV-Serie, die bis heute ihren Kultstatus bestimmen, fortzusetzen. Durch diese ungewöhnliche künstlerische Strategie wurde FIRE WALK WITH ME zu Lynchs bisher eigenwilligstem Film.

Wie Hans Schifferle in seinem Review zu dem ansonsten von der Kritik überwiegend gnadenlos verrissenen Film treffend bemerkt, nutzt Lynch die Freiräume, die durch die Befreiung von den Regeln und Strukturen des TV-Formats und der Narration entstehen, um sich auf die detaillierte Etablierung und Erkundung von Atmosphäre und Emotionen zu konzentrieren. Dabei laufen Lynch und sein Ensemble zu formalen Höchstleistungen auf, allen voran sein Stammkomponist Angelo Badalamenti, der im Score zu FIRE WALK WITH ME die eigenen, für die Serie verfaßten Kompositionen zersetzt und in einer ausgedehnten, düsteren Symphonie wieder zu etwas Neuem zusammenfügt. Seine Montage from TWIN PEAKS faßt noch einmal die markanten Themen der Serie, den Main Title und Laura Palmer´s Theme zusammen, durchsetzt von unter die Haut gehenden Dissonanzen.

FIRE WALK WITH ME vollzieht den langen Abschied von der Serie. Wenn Laura Palmer, gefolgt von ihrer naiv-unschuldigen Freundin Donna das Roadhouse betritt, singt Julee Cruise erneut einen hypnotischen Song über die Questions in a World of Blue. Obwohl dieses Szenario bereits aus dem Pilotfilm zur TV-Serie vertraut ist, in dem das versammelte Bikerpublikum schmachtend dem abstrakten Kitsch der Sängerin lauscht, nimmt das Geschehen im Film eine völlig andere Qualität an. Statt die ironischen Brüche der TV-Serie aufzugreifen, ordnet sich die gesamte Inszenierung dem durch den Song und seine minimalistischen Lyrics wiedergespiegelten emotionalen Zustand Lauras unter. Intensive Blau- und Rottöne dominieren das gesamte Bild und die Choreographie der Aktionen folgt den verlangsamten Bewegungen der Protagonistinnen.

Bereits sehr früh stellt Laura fest, daß der gefürchtete Dämon Bob ihr Vater Leland ist. Die beängstigenden Konfrontationen mit dem familiären Terror, auf den ihre Mutter nur mit verzweifelter Apathie reagiert, zeigen das realistische Äquivalent zu dem in ERASERHEAD abstrakt in Szene gesetzten Familienhorror. Auch ihre Beziehungen zu Bobby und James können Laura nicht weiterhelfen. In ihrer letzten Begegnung erklärt sie James, „It´s just me now.“, und entsprechend engt Lynch den Blickwinkel ein. Die Romanze mit dem sanften, wie auch naiven rebel hero, dessen rebellischste Aktion darin bestehen dürfte, daß er nach seinem letzten Treffen mit Laura über eine rote Ampel fährt, wirkt wie eine verblassende Erinnerung an eine andere Geschichte. Bobby hingegen ist derart auf Lauras Abbild (Image) fixiert, daß er sie gar nicht erst richtig wahrnimmt. Bezeichnenderweise küßt er in einer der ersten Sequenzen des Hauptteils von FIRE WALK WITH ME ihr aus der Serie bekanntes, in einer Vitrine verschlossenes Homecoming Queen-Foto, während Laura sich gleichzeitig heimlich mit James trifft. Auch der Kitsch der Serie existiert überwiegend nur noch als Echo, entweder als fragmentarische Andeutung wie ein kurz angespieltes Geigenthema als Begleitung der ersten Szene zwischen James und Laura, oder in der Überhöhung symbolisch als Schutzengel, der Laura und Cooper am Ende in der White Lodge erscheint.

Die Mächte aus der Black Lodge behandelt FIRE WALK WITH ME von Anfang an als real. Der Effekt des Unheimlichen verstärkt sich, wie Lynch in einem Interview andeutete, darüber, daß sie auch tagsüber in Erscheinung treten. Der in der ersten surrealen Sequenz im FBI-Hauptquartier vom Man From Another Place ausgegebenen Devise, „We live inside a dream.“ folgend, kollabieren Traum und Realität. Realismus und Surrealismus fallen zusammen, ohne sich wie zuvor in der Serie noch einfach auf Grund der unterschiedlich gestalteten Handlungsstränge voneinander trennen zu lassen. Durch ein Gemälde, das ihr eine alte Dame, die auch in der Serie als Vorbote der Dämonen aus der Black Lodge agiert, übergibt, betritt Laura im Zustand zwischen Traum und Halluzination den Red Room. In diesem trifft sie am Ende des Films auch in grelles weißes Licht getaucht auf Agent Cooper. Dieses versöhnliche Schlußbild zum TWIN PEAKS-Komplex legt nahe, begleitet von Badalamentis Komposition The Voice of Love, daß sich beide in der White Lodge, dem jenseitigen Gegenstück zur Black Lodge, das in den letzten Folgen der Serie erwähnt wird, befinden. Diese hyperreale Apotheose markiert zugleich den Abschied vom klassischen Lynch-Helden, den Kyle MacLachlan bis dahin verkörperte. In TWIN PEAKS und verstärkt in FIRE WALK WITH ME nehmen metaphysische, seelische Räume konkrete Gestalt in den verschiedenen Ausformungen des Red Rooms an. Diese bestimmen auch LOST HIGHWAY, doch im Gegensatz zu den von Kyle MacLachlan dargestellten Protagonisten, dominiert in diesem filmischen Raum von Anfang an der schizophrene Blick Fred Madisons (Bill Pullman) auf einer langen Reise durch die Bruchstücke Lynchlands.    

 

On a Road to Nowhere?? - LOST HIGHWAY

„Wir sind vom Wilden zum Wahnsinn gelangt.“
David Lynch über LOST HIGHWAY

Die radikale Subjektivität der Narration, die in den letzten Einstellungen zu FIRE WALK WITH ME sogar so weit führt, daß die aus der Serie bekannte Plastikplane über die Kamera selbst gezogen wird, bestimmt auch den Blick in LOST HIGHWAY. Doch läßt sich in diesem Film dem Blick kein eindeutiger Körper mehr zuordnen, da sich in der Mitte des Films der vermeintliche Mörder Fred Madison in den jüngeren Mechaniker Pete Dayton (Balthazar Getty) verwandelt. Eine der gängigsten Interpretationen läuft darauf hinaus, daß sich der schizophrene Saxophonist Fred, der auf Grund verbitterter Eifersucht seine Frau Renee (Patricia Arquette) getötet hat, in der Todeszelle eine alternative Identität in Form von Pete herbeiphantasiert, letztendlich aber wegen seiner Unsicherheit auch in dieser erneut scheitert. Das Problem an dieser Deutung, die durchaus auf den psychologischen Subtext von LOST HIGHWAY zutrifft, liegt jedoch darin, daß Lynch, wie sich bereits in der Inszenierung des Red Rooms in TWIN PEAKS -Film und Serie - zeigt, den scheinbar imaginären Räumen eine eigene filmische Realität zuweist. Auf diese Weise erklärt sich auch das ansonsten reichlich unlogische Zusammentreffen der beiden Cop-Duos, die nach Freds Rückverwandlung am Tatort, an dem die Leiche des Zuhälters Andy (Michael Massee) mit dem Kopf in der Tischplatte steckend zurückgelassen wurde, lediglich die Fingerabdrücke Pete Daytons vorfinden.

Das Bindeglied zwischen den Welten Freds und Petes bildet der Mystery Man (Robert Blake). Dieses „postmoderne Klischee“ (Diedrich Diederichsen) funktioniert sowohl als Erinnerung an das psychologisch Verdrängte, wie auch als eigenständige, übernatürliche Figur. Die angebliche Banalität eines Klischees ist dabei von Lynch bewußt gesucht. Immerhin gilt ein Dämon mit grauen Haaren und Jeansjacke auch nicht gerade als die unheimlichste Gestalt des Horrorgenres. Durch die vermeintliche Durchschaubarkeit des Mystery Man als weiterem Lynchismus wirkt seine Erscheinung umso effektiver. Die Raffinesse von Lynchs inszenatorischem Vorgehen liegt darin, daß er widersprüchliche Hinweise einstreut. Die Geschichte Pete Daytons, der eines morgens ahnungslos anstelle Freds in der Todeszelle aufwacht, enthält zahlreiche Elemente eines Mystery-Thrillers.

Doch Lynch reduziert die Informationen über die Vorgänge derart drastisch, daß zwar immer wieder im Gespräch mit Petes Freundin (Natasha Gregson Warner) und seinen Eltern (Gary Busey und Lucy Butler) jene Nacht erwähnt wird, in der er anscheinend begleitet vom Mystery Man vor dem Körpertausch zu Hause auftauchte, aber dennoch erfährt der Zuschauer nie, was es damit wirklich auf sich hat. Bildfragmente dieses Vorgangs, die auch während der Verwandlung zu sehen sind, weisen darauf hin, daß tatsächlich etwas an diesem Abend vorgefallen ist, das sich nicht allein in der Imagination Freds abspielt. Vor dem Körpertausch beobachten sich der Mystery Man vor einer zuvor rückwärts abgebrannten Hütte und Fred in seiner Zelle in einer Schuß-Gegenschuß-Aufnahme. Anschließend geht, wie immer wenn bei Lynch eine filmische Welt kollabiert, das Licht aus.

Der Mystery Man tritt in den beiden Welten des Films mit unterschiedlichen Funktionen auf. Im Fall von Fred und Dick Laurent (Robert Loggia) sorgt er ausgestattet mit Handy und Videokamera für die Erinnerung an das Verdrängte. Als er Fred in einer der letzten Szenen bei der Ermordung Dick Laurents assistiert, präsentiert er dem Gangster die Motive für die Tat mit Hilfe eines Watchman. Für Fred wird er zum Symbol für die eigene, verdrängte Entfremdung, kulminierend in der entscheidenden Frage, „Who the fuck are you ?“. In der Welt Petes hingegen agiert er als Genrefigur in der Tradition des Ghouls aus Harold Herk Harveys CARNIVAL OF SOULS (Tanz der toten Seelen, 1962, nicht zu verwechseln mit dem unsäglichen Remake von 1998). In diesem Midnight Movie-Klassiker wird die einzige Überlebende eines schweren Autounfalls (Candace Hilligoss, der Rollenname von Petes Mutter Candace Dayton stellt vermutlich eine versteckte Hommage an den Film dar) an ihrem neuen Wohnort immer wieder von einer geisterhaften Erscheinung (dargestellt vom Regisseur des Films) heimgesucht. Die erste Begegnung mit dem jenseitigen Ghoul erfolgt auf einer einsamen Landstraße, dem LOST HIGHWAY der frühen 60er Jahre. Sie verliert zunehmend den Kontakt zur Außenwelt, bis hin zu dem Punkt, an dem sie für ihre Umwelt unsichtbar erscheint. Ähnliche Einstellungen finden sich in LOST HIGHWAY wieder, wenn Petes subjektiver Blick auf seine Umgebung immer stärker verschwimmt. Am Ende des Films stellt sich heraus, daß sich die gesamte Handlung von CARNIVAL OF SOULS in einem Bereich zwischen Leben und Tod abgespielt hat. In der letzten Sequenz findet ein Suchtrupp den in der Anfangssequenz im Fluß versunkenen Unfallwagen und entdeckt unter den leblosen Insassen die Protagonistin des Films. Der Mystery Man erinnert Pete daran, daß er eigentlich nur ein Toter auf Urlaub ist. Das Versprechen des Mystery Mans einer eindeutigen Körperlichkeit an Fred in Gestalt von Pete, inklusive des eindeutig fiesen Gegenspielers Mr.Eddy und der zu rettenden Geliebten Alice, erweist sich als Trugschluß.

Lynch läßt beide Motive, den Mystery Man als figurative Erscheinung des Unterbewußten und seine Etablierung als Genrefigur genußvoll aufeinander los. Die amerikanische Filmtheoretikerin Martha Nochimson definiert in ihrer Studie The Passion of David Lynch - Wild at Heart in Hollywood die Figur des suchenden Beobachters als Schlüsselmotiv im Werk des Regisseurs. Dieser muß die außer Kontrolle erscheinenden Energien des Unterbewußten überwinden, um zum Visionären zu gelangen. Darin liegt die Gemeinsamkeit der Lynchschen Protagonisten, von Henry Spencer in ERASERHEAD bis Laura Palmer in FIRE WALK WITH ME. Fred Madison und Pete Dayton scheitern an ihrer Unfähigkeit zum Überschreiten dieser Grenze. Durch den Verlust ihrer Imagination werden sie immer wieder auf die Straße ins Nichts zurückgeworfen.

Die Fluchtbewegungen des Plots stellen zugleich ein Versagen der herbeizitierten Genres dar. Lynchland existiert nicht mehr wie in BLUE VELVET, oder anfangs auch in TWIN PEAKS, als eine geschlossene, räumliche Einheit, sondern vielmehr in Form von separaten Tableaus. Im ersten Drittel präsentiert Lynch eine aktualisierte L.A.-Variante der Entfremdungszustände aus ERASERHEAD, indem er die Wohnung der Madisons als triste Variante des dunklen Labyrinths, das Dorothys Wohnung in BLUE VELVET darstellte, inszeniert. Die räumliche Verunsicherung verstärkt sich neben den ominösen Videokassetten und dem gewohnt bedrohlichen Sound-Design durch Kameraführung und Montage. Die spärlich beleuchteten Gänge der Wohnung scheinen ins Unendliche zu führen. Als Fred nach seinem expressiven Auftritt im Club zu Hause anruft, befindet sich das Telefon scheinbar gleichzeitig an mehreren Positionen. Ob es sich dabei um die Ereignisse eines Abends oder seine verzerrte Vorstellung handelt, bleibt unklar. 

 Der filmische Kosmos, in dem sich Pete Dayton bewegt, bietet hingegen eine Ansammlung vertrauter Lynch-Motive in neuem Ambiente. Die düsteren Abgründe lauern hinter der properen Fassade von Suburbia im gleichen Maß wie in den idyllischen Wäldern um TWIN PEAKS. Mr.Eddy / Dick Laurent agiert als schon fast cartoonhafte Übersteigerung eines Lynch-Schurken. Besonders deutlich wird dies in der grandios-absurden Verfolgungsjagd, in der Mr.Eddy mit vorgehaltener Knarre einem Verkehrsrowdy Nachhilfe in Sachen defensives Fahrverhalten erteilt (im Hintergrund läßt sich andeutungsweise der bekannte Hollywood-Schriftzug ausmachen). In Arnies (Richard Pryor) Garage ergibt sich auch wieder die Möglichkeit für die ansonsten sparsam eingestreuten ironischen Brechungen. ERASERHEAD-Darsteller Jack Nance zeigt sich in seiner letzten Rolle als Mechaniker äußerst angetan von Freds Saxophon-Solo, das als vage Erinnerung an das erste Handlungssegment plötzlich aus dem Autoradio (ähnlich dem ätherischen Love-Song während der letzten Liebesszene zwischen Pete und Alice, der zuvor bereits die Verwandlung von Fred in Pete begleitete) erklingt, während Pete davon gar nichts wissen will.

Die gebrochene Anordnung der filmischen Tableaus findet sich auch im Einsatz des mehrteiligen Soundtracks wieder. Neben den vertrauten Kompositionen Angelo Badalamentis, begleiten die relaxten Klänge des britischen Musikers Barry Adamson auf einer zweiten Ebene das filmische Geschehen (Er verfaßte das Thema für Mr.Eddy und den genialen Track mit dem bezeichnenden Titel Something Wicked This Way Comes, der den ersten Auftritt des Mystery Mans ankündigt). Den gesamten Film umspannt David Bowies programmatisches Schizo-Statement I´m Deranged und den ersten Auftritt Alice Wakefields charakterisiert Lou Reed als Magic Moment, während der Glamour-Schlock-Rocker Marilyn Manson Pete / Fred mit den Worten „She´s something you will never have“ vorwarnt, daß er Renee / Alice in keiner seiner diversen Inkarnationen besitzen wird.    

 

Die Entdeckung der Geradlinigkeit

Während Lynch sich der anbahnenden Krise der eigenen Ästhetik durch deren gezielte Demontage und Neudefinition entzog, verdeutlicht die Entwicklung der letzten Jahre zunehmend, daß sein Werk weniger nach den Kriterien des klassischen europäischen Autorenideals, sondern vielmehr als kollektive Produktion funktioniert, zu der das Fragmentarische als konstituierendes Element gehört. Als kreative Kräfte beteiligen sich an der Gestaltung Lynchlands neben dem auteur im konventionellen Sinne ebenso Barry Gifford, der die literarische Grundlage für WILD AT HEART schuf und LOST HIGHWAY als Co-Autor um zahlreiche Noir / Hardboiled-Reminiszenzen bereicherte, wie auch Mark Frost, der als Produzent und zweite gestaltende Kraft die Landkarte von TWIN PEAKS etablierte. Darüber hinaus finden sich natürlich auch immer wieder die üblichen Verdächtigen des Lynchmobs wie Angelo Badalamenti, Chris Isaak oder David Bowie ein.

In dem gerade durch seine unspektakuläre Inszenierung überraschenden STRAIGHT STORY erwies sich der Titel als Programm. David Lynch schildert auf ungewohnt geradlinige Weise die letzte Reise des Rentners Alvin Straight, dargestellt von dem zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits schwer kranken Richard Farnsworth, der auf einem Rasenmäher quer durch den Mittleren Westen reist, um sich vor seinem Tod mit dem von ihm entfremdeten Bruder auszusprechen. Die Inszenierung verzichtet fast völlig auf Sentimentalitäten und präsentiert potentiell melodramatische Momente wie das Wiedersehen der beiden Brüder am Ende des Films bewusst zurückhaltend.  Stilistisch finden sich in THE STRAIGHT STORY einige Anspielungen auf die gewohnten Lynchismen wie etwa die gelben Highway-Markierungen oder einige Begegnungen der absurden Art. Doch insgesamt dominiert den Film eine beinahe meditative Gelassenheit, die ganz dem Charakter seines ungewöhnlichen Protagonisten entspricht.

Mit dem ursprünglich als Fernsehserie begonnenen MULHOLLAND DRIVE kehrte Lynch 2002 auf vertrautes Terrain zurück. Hauptdarstellerin Naomi Watts, die mittlerweile durch Filme wie das amerikanische RING-Remake (USA 2002, 2005) und Peter Jacksons KING KONG (USA 2005) zum prominenten Nachwuchsstar avancierte, bewegt sich durch ein Labyrinth aus Seelenlandschaften und skurrilen Charakteren, die offensichtlich als Personal für die auf Grund von Schwierigkeiten mit dem Sender nie fortgeführte TV-Serie gedacht waren. Trotz einiger eindrucksvoll realisierter Sequenzen wie einer Performance des Komponisten Angelo Badalamenti in der Mitte des Films, zeigen sich in MULHOLLAND DRIVE erste Ermüdungserscheinungen. Natürlich könnte man auf altbewährte Weise jetzt noch einmal zu den tausend Plateaus von Deleuze und Guattari greifen und auf die rhizomatische Struktur des Films hinweisen. Aber im Gegensatz zum erst mit einigen Verzögerungen rehabilitierten TWIN PEAKS – FIRE WALK WITH ME, der bis heute zahlreiche überraschende Wendungen bietet und auf eine außergewöhnliche und intensive  Weise den Experimentalcharakter von ERASERHEAD mit dem postmodernen Sweet Shine der TWIN PEAKS-Serie kombiniert, wirkt diese erneute Rundfahrt durch Lynchland etwas gelangweilt und redundant. Betont geheimnisvolle Gestalten mit Cowboyhut und seltsame Räume hinter Spiegelwänden erscheinen mittlerweile als im Leerlauf befindliche Zeichen, die nicht mehr auf neue Aspekte eines hochgradig ambivalenten, postmodernen Labyrinths, sondern in erster Linie auf sich selbst verweisen. Lediglich der bereits in früheren Filmen angelegten, von Martha Nochimson und anderen Theoretikern ausführlich thematisierten feministischen Perspektive kann MULHOLLAND DRIVE einige neue Aspekte abgewinnen. Die große Entdeckung des etwas zu routiniert geratenen Films ist zweifelsohne die australische Schauspielerin Naomi Watts, der nach Nebenrollen in Filmen wie TANK GIRL (USA 1995) mit Unterstützung von David Lynch der Durchbruch gelang.

Der episodenhafte Charakter von MULHOLLAND DRIVE spiegelt nicht nur die komplizierte Entstehungsgeschichte des Films wider, der im Lauf von drei Jahren von einer abgelehnten Fernseh-Pilotfolge zu einem abendfüllenden Spielfilm ausgebaut wurde. Die offene Struktur des zunehmend auf sich selbst verweisenden Lynch-Universums markiert indirekt auch den Übergang zu seinem 2002 gestarteten Internet-Projekt, das gegen eine monatliche Abogebühr Kurzfilme und andere exklusive Inhalte anbietet.

 

Filmographie:

  • ERASERHEAD (1977)

  • THE ELEPHANT MAN (Der Elefantenmensch, 1980)

  • DUNE (Der Wüstenplanet, 1984)

  • BLUE VELVET (1986)

  • THE COWBOY AND THE FRENCHMAN (1989)

  • TWIN PEAKS (1989-1991, TV-Serie)

  • WILD AT HEART (1990)

  • INDUSTRIAL SYMPHONY NR.1 (Performance mit Julee Cruise und Michael J.Anderson, 1990)

  • TWIN PEAKS - FIRE WALK WITH ME (Twin Peaks- Der Film, 1992)

  • ON THE AIR (1992, TV-Serie)

  • HOTEL ROOM (1992, TV-Serie)

  • LOST HIGHWAY (1997)

  • STRAIGHT STORY (1999)

  • MULHOLLAND DRIVE (2002)

Literatur:

  • Michel Chion. David Lynch. Englische Ausgabe: London, 1994

  • Robert Fischer. Die dunkle Seite der Seele. München: Heyne, 3.Auflage 1997.

  • Ann Jerslev. Mentale Landschaften. Wien. Edition Passagen, 1996 (Dänische Originalausgabe, Kopenhagen, 1991).

  • Martha Nochimson. David Lynch- Wild At Heart in Hollywood. University of Texas Press, 1997.

  • Eckhard Pabst. A Strange World- Das Universum des David Lynch. Kiel: Ludwig Verlag, 1998

  • Chris Rodley. Lynch über Lynch. Frankfurt: Verlag der Autoren, 1998. (Original bei Faber and Faber, London, 1997)

  • Georg Seeßlen. David Lynch und seine Filme. Marburg: Schüren Verlag, 3. Auflage 1999

  • Paul A. Woods, Weirdsville USA - The Obsessive Universe of David Lynch. London: Plexus, 1997