Dreaming of the Revolution
The Dreamers - Die Träumer
Nach Enttäuschungen wie dem inhaltsleeren Toskanabilderbogen STEALING BEAUTY (Italien 1997) war zu befürchten, dass sich Bernardo Bertolucci nur noch auf dem Ruhm seiner vergangenen Erfolge 1900 (Italien 1974-76) und LAST TANGO IN PARIS (Frankreich / Italien 1972) ausruhen würde. Umso überraschender erscheint es, dass ihm mit THE DREAMERS ausgerechnet zum reichlich abgefrühstückten bis immer wieder penetrant nostalgisch aufgewärmten Thema ’68 ein ausdrucksstarker und interessanter Film gelang. Bertolucci war wie zahlreiche andere Regisseure der damaligen Zeit, allen voran natürlich die Aushängeschilder der Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard in die Ereignisse um den Mai ’68 selbst involviert. Für den britischen Schriftsteller Gilbert Adair galt Bertolucci daher als einer der am besten geeigneten Regisseure für die Verfilmung seines Romans „The Holy Innocents“, in dem er seine eigenen Erfahrungen während eines mehrjährigen Aufenthalts in Paris und seine Leidenschaft für das Kino aufarbeitete.
Im Mittelpunkt von THE DREAMERS stehen die filmischen Obsessionen und Leidenschaften um die legendäre Cinémathèque von Henri Langlois, deren Programm nicht nur die Filme der Nouvelle Vague und die Zeitschrift Cahiers du Cinema entscheidend prägte, sondern auch die Träume von der Revolution mit Bildern beförderte. Die Schließung der Cinémathèque und die Entlassung Langlois im Februar 1968 führten zu einer umfassenden Protestwelle, die vor Ort von den Aktivisten der Nouvelle Vague und mit internationalen Solidaritätserklärungen von zahlreichen Größen der Filmgeschichte unterstützt wurde. Die anfangs von der Polizei attackierten Demonstrationen für die Cinémathèque sorgten nicht nur für eine enge Verknüpfung von Film und Politik, sie galten auch als Auftakt zu den größeren Protesten wenige Monate später. Diese Zusammenhänge interessieren den jungen amerikanischen Austauschstudenten Matthew, eine der Hauptfiguren von THE DREAMERS, weniger als die in der Cinémathèque gezeigten Filme. Bei einer Vorführung von Sam Fullers SHOCK CORRIDOR (USA 1963) lernt er das französische Geschwisterpaar Isabelle und Theo kennen. Gemeinsam besuchen sie die Protestkundgebungen für Langlois. Auf dieser wiederholt der sichtlich um einige Jahre gealterte Schauspieler Jean-Pierre Léaud als er selbst für Bertolucci noch einmal seine engagierte Ansprache von damals. Ergänzend werden dokumentarische Aufnahmen mit Francois Truffaut und Jean-Luc Godard einmontiert.
Nach dieser Markierung des film- und gesellschaftsgeschichtlichen Rahmens der
Handlung verwandelt sich THE DREAMERS in ein hochgradig stilisiertes, jedoch in
keiner Szene prätentiöses Kammerspiel. Im Gegensatz zum Großteil der damaligen
Studenten und Cinémathèque-Besucher zieht es das internationale Trio Infernale
auf Probe nicht auf die Straße. Stattdessen okkupieren sie die Wohnung von
Isabelles und Theos Eltern, die für mehrere Wochen in Urlaub gefahren sind. Den
neuen amerikanischen Freund fanden diese auf Grund seiner netten Verschrobenheit
auf Anhieb sympathisch und haben ihn als eine Art Dauergast eingeladen. Zwischen
den Geschwistern wird ein vermeintlich inzestuöses Verhältnis angedeutet, das
sich jedoch auf die melodramatische Geste beschränkt. Matthew beobachtet das
Verhältnis zwischen Theo und Isabelle als Voyeur, der sich im weiteren Verlauf
des Films zunehmend in einen aktiv an den erotischen Spielen der Geschwister
Beteiligten verwandelt. Die Cinemaniacs versuchen den Louvre-Marathon-Rekord der
Protagonisten aus Godards A BANDE APART (Die Außenseiterbande, Frankreich 1964)
zu brechen und spielen ihre Lieblingsszenen aus der Filmgeschichte von A BOUT DE
SOUFFLE (Außer Atem, Frankreich 1960) über SCARFACE (USA 1932) bis hin zu THE
BLONDE VENUS (USA 1932) nach. Theo und Isabelle akzeptieren Matthew in Anlehnung
an Tod Brownings FREAKS (USA 1932) als einen der ihren. Nach kurzer Zeit werden
die harmlosen Film-Quizspiele mit sexuellen Strafaktionen verbunden, die sich zu
einer sinnlichen performativen Imitation of Life entwickeln.
Durch die sorgfältige Inszenierung und die Arbeit des Kameramanns Fabio
Cianchetti, der sich sichtlich Mühe gibt angesichts des stark eingegrenzten
Schauplatzes interessante Bilder zu finden, gelingt THE DREAMERS das gewagte
Unternehmen noch einmal vom sich ansonsten allzu oft in selbstverliebten
Anekdoten verlierenden Mai’68 zu erzählen. Bertolucci klammert die Ereignisse
auf den Strassen von Paris bis zum Finale fast vollständig aus und konzentriert
sich stattdessen auf die von Cinephilie und einem noch etwas desorientiert
wirkenden Befreiungsdrang geprägte Mentalität seiner Protagonisten, die
charakteristisch für den Zeitgeist erscheint, der schließlich zur versuchten
Revolte führt. Das größtenteils auf die Innenräume der Wohnung beschränkte Drama
weckt zwangsläufig Erinnerungen an Bertoluccis eigenen LAST TANGO IN PARIS, zu
dem der Regisseur offensichtlich bewusst Parallelen zieht, um schließlich
ausdrucksstarke Gegenbilder zu entwerfen. In der Rolle eines in Paris
gestrandeten amerikanischen Witwers unternahm Marlon Brando damals gemeinsam mit
der ihm verfallenen fünfundzwanzig Jahre jüngeren Jeanne (Maria Schrader) einen
letzten Versuch gegen die bourgeoisen Moralvorstellungen aufzubegehren, der in
Verzweiflung und Selbstzerstörung endete. Im LAST TANGO dominierten in Anlehnung
an die gequälten Gestalten des Malers Francis Bacon durch Glasscheiben
gebrochene Perspektiven die Bildgestaltung. In THE DREAMERS hingegen spiegelt
sich bei einem gemeinsamen Bad jeder der drei Protagonisten in einem
dreiteiligen Spiegel, als würde es sich um seine eigene persönliche Staraufnahme
handeln. Am Anfang des letzten Tangos stand der verzweifelte Aufschrei eines
Desillusionierten, der mit sich selbst bereits abgeschlossen hat. Bertoluccis
dreißig Jahre später realisierter cineastischer Tanz in den Mai beginnt mit
einer langen Kamerafahrt beinahe an der gleichen Stelle, an der Marlon Brando zu
Beginn des bekannten Erotikdramas seine Wut hinausschrie. Doch diesmal
dominieren nicht die Figuren von Francis Bacon, sondern die psychedelischen
Sounds von Jimi Hendrix und das bunte Pop-Art-Design der Credits den Vorspann.
Isabelle, Theo und Matthew verwandeln die Wohnung der Eltern in einen
cineastischen, zunehmend erotisierten Abenteuerspielplatz. Durch ihre
Begeisterungsfähigkeit und Entdeckungslust gelingt den drei Träumern zeitweise
genau jener Ausbruch, an dem das Paar in LAST TANGO auf Grund der übermächtigen
Verbitterung und Kommunikationsunfähigkeit scheiterte. In ihrer
Kinoversessenheit erinnern Theo, Isabelle und Matthew an Jean-Pierre Léauds
Rolle im LAST TANGO. Im Bemühen seine Realität wie einen Film zu inszenieren
bemerkt er als obsessiver Kinofreak gar nicht, dass er seine Freundin an einen
alternden Rebellen verloren hat. Da in THE DREAMERS jedoch alle drei
Hauptfiguren die gleiche Leidenschaft teilen, ergeben sich daraus keine
Probleme. Die von den Charakteren zitierten Filme werden in Ausschnitten
eingespielt. Einige Kritiker wie Cynthia Fuchs von dem empfehlenswerten
Online-Magazin Popmatters sahen in der offensichtlichen Gestaltung dieser
Querverweise ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Publikum. Doch statt einer
belehrenden Bevormundung geht es Bertolucci vielmehr darum in die subjektive
Perspektive der Protagonisten einzutauchen, aus der sich ihre Appropriation
filmischer Vorbilder ergibt. Zu diesem Zweck setzt er die Ausschnitte wie
Samples ein, die einen filmhistorischen Hintergrund zitieren und gleichzeitig
dazu eine eigene Auslegung entwerfen.
Die sich zuspitzende politische Situation notieren Isabelle, Theo und Matthew
lediglich en passant. Die Sympathie für die Proteste beschränkt sich anfangs auf
vage symbolische Gesten, in deren Naivität sich einige der sich anbahnenden
Sackgassen andeuten. Theo, in dessen Zimmer ein Poster von LA CHINOISE
(Frankreich 1967), Godards Dialogdrama über eine maoistische WG, hängt, erklärt
seine Begeisterung für Mao, der die Kulturrevolution wie einen Film mit mehreren
tausend Statisten inszenieren würde. Außerdem sollte man alle Eltern in
Umerziehungslager schicken. Theos Debatten mit Matthew, der in seiner
politischen Einfältigkeit hingegen versucht den Vietnamkrieg zu verteidigen,
beschränken sich weitgehend auf popkulturelle und cineastische Dauerbrenner der
damaligen Zeit, ob Eric Clapton oder Jimi Hendrix der bessere Gitarrist und ob
Charlie Chaplin oder Buster Keaton der poetischere Komiker sei.
Zwischen Matthew und der gerade auf Grund ihrer unschuldigen Art verführerischen
Isabelle bahnt sich eine Romanze an. Gemeinsam verbringen sie ein romantisches
Date, das Bertolucci in Anlehnung an die Bildsprache und die Konventionen des
Classical Hollywood inszeniert, inklusive einer sich schließenden Kreisblende am
Ende des Abends. Die beiden holen noch einmal die Phase des ersten
Zusammentreffens als selbst gewählte Inszenierung im Stil einer
Hollywood-Romanze nach. Theo reagiert mit rasender Eifersucht auf das Verhältnis
zwischen seiner Schwester und Matthew. Dennoch hatte er selbst den beiden nach
einem verlorenen Filmquiz befohlen vor seinen Augen miteinander zu schlafen. Im
letzten Drittel des Films scheint sich ein tragisches Ende anzubahnen. Isabelle,
die dramatische Schlusssequenz von Bressons MOUCHETTE (Frankreich 1967) vor
Augen, plant nach der Entdeckung der komplexen Dreiecksbeziehung durch ihre
Eltern den kollektiven Selbstmord. Ihr Vorhaben wird jedoch im letzten Moment
durch einen das Fenster zerberstenden Pflasterstein verhindert. Zurück in der
Außenwelt verlieren sich die Wege der Protagonisten in den Unruhen des Pariser
Mai. Matthew bleibt alleine als gereifter Beobachter zurück, während sich Theo
und Isabelle in den eskalierenden Straßenkampf stürzen. Eine Wertung der beiden
gegensätzlichen Positionen spart Bertolucci bewusst aus, stattdessen lässt er
den sorgfältig zusammengestellten, teilweise mit neu eingespielten
Coverversionen versehenen Soundtrack verkünden „Je ne regrette rien“. Nach
diesem überraschenden Comeback braucht sich Bertolucci in der Tat keine Vorwürfe
mehr wegen Fehlzündungen wie STEALING BEAUTY zu machen.