"How can I remember to forget you?"
Memento
(erschien ursprünglich in Splatting Image September 2001)
Unüberschaubare Machtstrukturen, dunkle Geheimnisse und dislocated subjects gehören zu den Allgemeinplätzen des Neo-Noir. Die Variationen des Genres, von dem niemand so genau weiß, ob es nicht doch einfach nur ein Inszenierungsstil ist, reichen vom dystopischen Future Noir (BLADE RUNNER, STRANGE DAYS), über den Noir als kritisches Period Picture (L.A. CONFIDENTIAL) bis hin zu den stilbewussten düsteren Hochglanz-Psychogrammen von David Fincher. Christopher Nolans MEMENTO geht einen Schritt weiter und lässt sich auf den ersten Blick in keine der gewohnten Neo-Noir-Abteilungen einordnen. Der in teure Anzüge gekleidete, souverän auftretende Leonard Shelby (Guy Pearce) verfolgt eigentlich ein ganz klassisches Anliegen. Wie zahlreiche Genrehelden im Western und Actionfilm vor ihm besteht sein einziges Ziel in der Rache am Mörder seiner Frau. Natürlich gestalten sich die wahren Hintergründe des Verbrechens weitaus komplizierter als es Leonard vermutet.
Erschwerend kommt hinzu, dass Leonard seit jener schicksalhaften Nacht, in der er zum Zeugen des Mordes wurde, der sein Leben verändern sollte, über kein Kurzzeitgedächtnis mehr verfügt. Die einzigen Anhaltspunkte seiner Identität und des unmittelbar zuvor Geschehenen sind Polaroid-Fotos, Notizen und temporäre Tattoos, die ihn an sein Vorhaben erinnern sollen.
Auf raffinierte Weise überträgt MEMENTO die Desorientierung des Protagonisten nicht nur auf den Zuschauer, sondern auf die Struktur des Films selbst. In der ersten Szene geschieht ein Mord, der eigentlich den Abschluss der Handlung bildet. Am Ende der Sequenz läuft das gerade gezeigte Geschehen noch einmal rückwärts ab und verwandelt sich in ein Foto, das sich zurückentwickelt, verblasst und in eine Kamera gesogen wird. Programmatisches Sinnbild für einen Mann, der zwar über bestimmte Eigenschaften verfügt, diese aber immer wieder vergisst. Leonards Gedächtnisverlust bedeutet nicht nur eine gezielte Übersteigerung der dislocated subjects des Noir. Der Zwang zur ständigen Neuorientierung stellt auch die traditionelle Motivation des Protagonisten in Frage. Sarkastisch kommentiert Leonard, dass er zwar den gesuchten Mörder zur Strecke bringen könne, aber an die Racheaktion würde er sich einen Augenblick später ohnehin nicht mehr erinnern.
Die Ereignisse, die zum Mord am Anfang des Films führten, werden nicht linear, sondern rückwärts erzählt. Zuschauer und Protagonist finden sich abrupt in skurrilen Situationen wieder, ohne dass auch nur ein Hinweis gegeben wird, wie Leonard in diese geraten ist. Im Schrank seines Hotelzimmers findet er einen brutal zusammengeschlagenen, gefesselten Fremden. Nachdem Leonard den Gefangenen aus seiner misslichen Lage befreit hat, erkundigt er sich besorgt, wer den Verletzten denn so brutal zugerichtet habe. Niemand anderes als Leonard selbst, lautet die Antwort – er könne sich nur nicht mehr daran erinnern. In einer anderen Sequenz stellt der Rächer ohne Gedächtnis überrascht fest, dass er mitten auf einer Strasse steht. Bevor er sich weiter fragen kann, wie er dort überhaupt dorthin gekommen ist, biegen seine Verfolger um die Ecke, vor denen er sich gerade auf der Flucht befindet.
Selbst eine weitere Erzählebene, die Leonard bei der Spurensicherung der gesammelten fragmentarischen Informationen beobachtet, bietet keine wirkliche Orientierung. Dieses Szenario, durch das in anderen Filmen Konstellationen geklärt und die Fäden rätselhafter Verschwörungen entwirrt werden, führt nur weiter in das Labyrinth des Films hinein. Durch die verschachtelte Erzählung erscheinen auch die Rollen des einzigen Verbündeten (Joe Pantoliano) und der Femme Fatale Natalie (Carrie-Ann Moss) undurchsichtiger als in anderen Neo-Noirs. Die Beziehung zwischen ihnen und Leonard gestalten sich entsprechend kompliziert. In einer Szene erklärt der Suchende ohne Erinnerungen Natalie, „How can I remember to forget you?“, und bringt damit die Ambivalenz seiner Situation auf den Punkt.
Die Faszination von MEMENTO ergibt sich weniger aus den bekannten, im Film zum Einsatz gebrachten Neo-Noir-Motiven, als aus der raffinierten Inszenierung, die aus der Genregeschichte vertraute dislocated subjects in einen sogartigen Schleudergang befördert, der nach wenigen Sequenzen den gesamten Film erfasst.