Eastern Promises - Tödliche Versprechen
In den 1970er und 1980er Jahren galt der kanadische Regisseur David Cronenberg als Experte für zugleich explizite und subtile Betrachtungen zu den Mutationen des menschlichen Körpers. Filme wie Shivers (1975), Videodrome (1983) und The Fly (1986) entwickelten ungewöhnliche und ambivalente Sichtweisen auf vertraute Themen des Horror- und Science-Fiction-Genres. Ende der 1980er Jahre zeichnete sich ein Paradigmenwechsel im Oeuvre Cronenbergs ab. Die Konflikte in den Filmen des mittlerweile international als Auteur gefeierten Regisseurs verlagerten sich in Dead Ringers (1988) und Naked Lunch (1991) zunehmend von der äußerlichen physischen auf eine innere psychologische Ebene, ohne sich dabei auf fadenscheinige inhaltliche Kompromisse einzulassen. Nachdem die apokalyptische Parabel Crash (1996) und die ironische Cyberspace-Reflexion eXistenZ (1999) die Verknüpfungen zwischen den Transformationen des Körpers und der Brüchigkeit der eigenen Identität zu einem logischen Abschluss geführt hatten, wandte sich Cronenberg in dem Kammerspiel Spider (2002) und dem Neo-Noir A History of Violence (2005) scheinbar bewährten Genrestoffen zu, denen er sich jedoch aus einer neuen, sich produktiv mit seinen früheren Arbeiten ergänzenden Perspektive annäherte.
Szenen, die nach traditionellen Genrekonventionen stärker akzentuiert würden, behandelt Cronenberg mit der für ihn charakteristischen Distanziertheit. Andere Elemente, die in einem konventionellen Thriller von Anfang an geklärt werden würden, zögert er hingegen hinaus, bis sie eine auffällige Eigendynamik annehmen. In A History of Violence wirkt der von Viggo Mortensen gespielte Protagonist anfangs tatsächlich wie ein harmloser Familienvater, der zufällig in die Schusslinie eines Gangstersyndikats geraten ist. Zwar signalisieren beiläufige Verdachtsmomente wie die für einen Provinz-Bistrobesitzer außergewöhnliche Körperbeherrschung und einige beiläufig erwähnte Leerstellen in seiner Biographie bereits, dass etwas nicht ganz stimmen kann, aber dennoch dauert es bis zur Mitte des Films bis die wahren Hintergründe des ehemaligen, in die Provinz geflohenen Auftragskiller aufgedeckt werden.
Die überlegte Konstruktion einer Innen- und einer Außenperspektive, die sich im Verlauf des Plots als weitaus unsicherer und durchlässiger als anfangs erwartet erweisen, bestimmt auch den Thriller Eastern Promises. Die konzentrierte, auf ästhetische Schnörkel wie verwackelte Kameraaufnahmen oder rasante Schnitte verzichtende Inszenierung schildert die Ereignisse um den Mord an einer illegalen, hochschwangeren Prostituierten, die kurz nach der Geburt ihres Kindes in einem Londoner Krankenhaus ihren tödlichen Verletzungen erliegt, aus zwei konträren Blickwinkeln. Der sich mit bewährten Insignien des Gangsterfilms wie dunklen Anzügen und Sonnenbrillen schmückende Mafia-Chauffeur und Handlanger Nikolai, von Viggo Mortensen mit ebenso eleganter wie verstörender Präzision gespielt, ignoriert als Kandidat für eine Beförderung durch den Mob bewusst die Verfehlungen seines Arbeitsumfelds. Die engagierte Krankenschwester Anna, von Naomi Watts gekonnt jenseits aller drohender Gutmenschen-Klischees angesiedelt, begibt sich hingegen gezielt auf die Suche nach den wahren Hintergründen für den Tod der jungen Frau, die während ihrer Schicht starb. Das Tagebuch der Verstorbenen, das als Voice-Over-Insert nach und nach die Background Story enthüllt, führt die ausdauernde, auf ihrem Motorrad selbstbewusst durch die verregneten Straßen der britischen Metropole streifende Protagonistin immer tiefer in das undurchsichtige Netz eines russischen Gangster-Syndikats, zu dessen Fußsoldaten Nikolai zählt.
Das Umfeld der Russen-Mafia gestaltet sich als abgeschotteter Mikrokosmos. In diesem finden sich durchaus Parallelfiguren zur westlichen Gangster-Mythologie, wie der von Armin Müller-Stahl in einer unheimlichen Mischung aus paternalistischen Gesten und selbstverständlicher Grausamkeit gespielte Pate. Doch im Vergleich zur familiären Atmosphäre in den Godfather-Filmen (1971-1991) Coppolas oder teilweise sogar noch in den Arbeiten De Palmas wie Scarface (1983) und Carlito’s Way (1993), erscheint Cronenbergs Variante der exil-russischen Reaktionen auf die Versprechen des westlichen Kapitalismus stets eine Spur unerbittlicher und unterkühlter als deren westliche Pendants. Der Clan um den schuldigen Patriarchen und seinen launischen Sohn (Vincent Cassel) erscheint wie eine russische Variante der Corleones unter den Bedingungen des Neo-Liberalismus, die sich letztendlich jedoch als ironiefreies osteuropäisches Gegenstück zu den Sopranos erweist.
Die für Cronenbergs frühe Filme charakteristischen Körperbilder kehren in einigen Sequenzen durch die Hintertür zurück. Die Zugehörigkeit zur Mafia wird durch eine spezielle Tätowierung besiegelt, die zugleich an ein hierarchisches Symbol der Macht und an ein unterordnendes Brandzeichen erinnert. Ein Anschlag auf den ahnungslosen Nikolai in einer Sauna akzentuiert deutlich dessen Reduktion auf die reine Körperlichkeit, die dennoch keine Auskunft über seine wahren Beweggründe gibt.
Der Film bietet eine interessante thematische Umkehrung zu A History of
Violence. Während es in diesem um die scheiternde Flucht vor den
Schatten der Vergangenheit ging, die den Protagonisten selbst in der amerikanischen
Provinz einholt, steht im Mittelpunkt von Eastern Promises die Frage,
wie weit man sich in den Kreislauf des Verbrechens begeben kann, ohne selbst
darin verloren zu gehen. Cronenberg seziert eine klassische Gangstergeschichte
durch den Filter des Noir, wie er in früheren Filmen die Transformationen
des menschlichen Körpers analysierte. Die Brutalitäten des Mafia-Alltags
werden auf ungeschönte und dennoch unspektakuläre Weise in die
Handlung integriert. Cronenbergs langjähriger Kameramann Peter Suschitzky
fasst das Geschehen in ausdrucksstarke, stilbewusste Bilder, die Londons
Hinterhöfe als düsteren Asphalt-Dschungel zeigen, ohne sich auf
die Oberflächen-Reize eines Mainstream-Thrillers einzulassen. Entsprechend
unaufgeregt behandelt Cronenberg auch das positive Ende, in dem er sowohl
aufgesetzt optimistischen, moralischen Kalenderblattweisheiten, als auch
ebenso billig zu habenden, larmoyanten Fatalismen eine deutliche Absage erteilt.
Hinter der auf den ersten Blick emotionslosen Fassade Nikolais, dessen Biographie
sich überraschend weitaus ambivalenter als erwartet gestaltet, werden
Spuren eines gelegentlichen Zweifels deutlich. Umgekehrt wird Anna im Verlauf
ihrer Recherchen mit den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten konfrontiert.
Mit Eastern Promises und seinem ländlichen Gegenstück A
History of Violencegelang es Cronenberg die existentialistischen Charakterstudien
und den präzise beobachtenden Stil seiner früheren Filme auf eine
eigenständigen Spielart des Neo-Noir anzuwenden. Gerade die scheinbaren
Annäherungen an klassische Formen des Gangster-Films lassen die vom
Regisseur vorgenommenen, durch das detailgenaue, dialektische Spiel von Watts
und Mortensen unterstützten Akzentverschiebungen umso deutlicher
werden.