Guilty by Suspicion
Mystic River
Clint Eastwood hat als Actionikone und Auteur in ungewöhnlicher Personalunion seit Jahren seinen Platz in der Filmgeschichte sicher. Dennoch dreht er unermüdlich ein Alterswerk nach dem anderen. In seinen Arbeiten der letzten Jahre betreibt er auf seine gewohnt lakonische und schnörkellose Art eine persönliche Auseinandersetzung mit den Regeln und Motiven des Genrekinos. In SPACE COWBOYS (USA 2001) unternimmt er, der nie einen Science-Fiction-Film gedreht hat, an der Seite von James Garner, Tommy Lee Jones und Donald Sutherland einen verspäteten Ausflug ins All, in TRUE CRIME (USA 1998) kritisierte er in Form eines Thrillers die Ungerechtigkeit der Todesstrafe und in BLOOD WORK (USA 2002) thematisierte er das eigene Alter in einer seiner Paraderollen als eigensinniger Cop.
Mit dem aktuellen Film MYSTIC RIVER setzt Eastwood schließlich jenen Prozess der Hinterfragung und Entmystifizierung eigener Rollentopoi fort, durch den sein desillusioniertes Western-Endspiel UNFORGIVEN (Erbarmungslos, USA 1991) vor etwas über zehn Jahren zum Klassiker wurde. Die Geschichte um die drei Jugendfreunde Jimmy, Dave und Sean, die sich nach einem grausamen Verbrechen auseinander gelebt haben und durch einen brutalen Mord Jahre später wieder mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden, problematisiert den Versuch das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, eine Haltung, der auch Eastwoods legendärer Tough Guy-Cop Dirty Harry Calahan nicht immer abgeneigt war.
Der Film beginnt mit einer Rückblende in die Kindheit der drei Protagonisten. Als sie gerade ihre Namen in feuchten Zement ritzen wollen, wird Dave von zwei angeblichen Polizisten aufgegriffen und in ein Auto gezerrt. Eine lange Kameraeinstellung auf den sich entfernenden Wagen wird zu einer zentralen visuellen Metapher des Films. Jahre später wird sie sich unter anderen Umständen wiederholen. Die vermeintlichen Cops erweisen sich als brutale Kinderschänder, die den entführten Jungen verschleppen und sexuell misshandeln, bis ihm überraschend nach einigen Tagen die Flucht gelingt.
In der Gegenwart begegnen sich die drei ehemaligen Freunde wieder, nachdem Jimmys Tochter einem undurchsichtigen Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Sean (Kevin Bacon), der das alte Viertel verließ, um Karriere bei der Mordkommission zu machen, übernimmt gemeinsam mit seinem Partner Whitey (Laurence Fishburne) den Fall. Er ahnt bereits, dass sich ein Wettlauf gegen die Zeit anbahnt. Sein ehemaliger Jugendfreund Jimmy (Sean Penn), der als Vorstadtgangster seine eigene Schlägerbande befehligt und bereits wegen krimineller Machenschaften im Knast saß, wird nicht davor zurückschrecken den Mörder seiner Tochter auf eigene Faust zu eliminieren, sollte es Sean und Whitey nicht gelingen diesen vor ihm und seinen Schlägern ausfindig zu machen. Auch der immer noch traumatisierte Dave (Tim Robbins) wird in den Fall verwickelt. Kurz vor ihrer Ermordung sah er Jimmys Tochter in einem Pub. Widersprüchliche Angaben über den weiteren Verlauf dieser Nacht und eine Verletzung an seiner Hand machen ihn, der über die Jahre hinweg immer noch eng mit Jimmy befreundet blieb zu einem der potentiellen Verdächtigen. Kurz darauf tauchen weitere Spuren auf, die in Jimmys ominöse kriminelle Vergangenheit führen und auf einen früheren Racheakt hinweisen.
In MYSTIC RIVER gestaltet sich Selbstjustiz als Teufelskreis, der stets nur neue Gewalt in unerwarteter Form hervorbringt und unausweichlich eine Tragödie auslöst, die durch die langsame und konzentrierte Inszenierung intensiviert wird. Eastwood verzichtet in seiner nüchternen und überlegten Art auf die in Zusammenhang mit den Themen Kindesmissbrauch und Selbstjustiz in anderen Filmen oft bemühten melodramatischen Stereotypen. Stattdessen realisiert er MYSTIC RIVER als eine Kombination aus Milieustudie und Thriller, die parallel zur Aufklärung des Falls ein Psychogramm der verschiedenen Protagonisten entwirft. Der semi-dokumentarische Charakter einiger Sequenzen, die überwiegend on-location in den Arbeitervierteln von Boston, dem Schauplatz der Romanvorlage gedreht wurden, verstärkt zusätzlich die realistisch gehaltene Atmosphäre des Films. Unterstützt wird Eastwood, der den Film in einem herbstlichen und häufig von Blautönen dominierten Look hält, von einem hervorragenden Ensemble. Vier seiner Hauptdarsteller waren wie er selbst bereits bei verschiedenen Gelegenheiten über ihre Tätigkeit als Schauspieler hinaus auch als Regisseure aktiv.
Die Besetzung des verstörten Dave mit Tim Robbins erweist sich als ausgesprochen geschickt. Einerseits assoziiert man mit Robbins die Verletzlichkeit des in dem Knastdrama THE SHAWSHANK REDEMPTION (Die Verurteilten, USA 1994) brutal misshandelten und unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen. Andererseits traut man ihm nach seinen Auftritten als über Leichen gehender Produzent in THE PLAYER (USA 1991) und als bibelfester erzkonservativer Südstaatenpolitiker BOB ROBERTS (USA 1993) jederzeit auch einen Mord zu. In MYSTIC RIVER bewegt sich Robbins in seinem zeitweise fast apathischen, dann wieder verzweifelt obsessiven Spiel geschickt zwischen diesen beiden Gegenpolen seiner Rollengeschichte. Er tritt als Opfer in Erscheinung, das zum Täter geworden sein könnte, obwohl man nicht wirklich davon ausgeht. Sean Penn liefert als brutaler Gangster und trauernder Familienvater eine beeindruckende schauspielerische tour-de-force. Auf subtile Weise kombiniert er in der expressiven Ausgestaltung seiner Figur eine tief sitzende Verletzlichkeit mit gnadenloser Grobschlächtigkeit. Seine von Laura Linney dargestellte Ehefrau entwickelt hingegen Verdrängungsmechanismen, deren perfide Ausmaße in einer der letzten Sequenzen deutlich werden. Im Gegensatz zu ihr ist die von Marcia Gay Harden gespielte Frau Daves von immer stärkeren Selbstzweifeln und starken inneren Widersprüchen gezeichnet. Kevin Bacon als von privaten Problemen geplagter Ermittler, der in seiner Anlage am stärksten an die früher von Eastwood selbst verkörperten Charaktere erinnert, kann zwar die Katastrophe vorhersehen, aber nicht verhindern. Als sein Partner demonstriert Laurence Fishburne auf gelassene Weise, dass er nicht völlig in den esoterischen Cyberspace-Passionsspielen der MATRIX abgetaucht ist. Der geschickt gewählte Rhythmus des Films und die eindringliche von Eastwood selbst komponierte Musik unterstützen die sogartige Wirkung der Geschichte bis zum bitteren Ende. Durch ein raffiniertes Wechselspiel aus klassischer Crime Story und psychologisch durchdachtem Drama gelang Clint Eastwood einer der interessantesten Thriller der letzten Zeit, der zugleich einen weiteren Höhepunkt in seinem Oeuvre bildet.