Spider-Man 2
Bereits der detailverliebte Vorspann von SPIDER-MAN 2 verdeutlicht erneut, dass Sam Raimi selbst zur Gruppe der obsessiven Comicfans jenseits aller nerdigen Manierismen zählt. Die Handlung des ersten Teils, in dem Spider-Man vor zwei Jahren gegen den Green Goblin antrat, wird während der Credits in Form von kunstvoll arrangierten Comicpanels zusammengefasst. Am Ende dieses Comics-im-Film leitet Raimi elegant in die Handlung des Sequels über. Das gezeichnete Bild von Kirsten Dunst verwandelt sich in eine Portraitaufnahme ihrer Rollenfigur Mary Jane, das der unscheinbare Peter Parker gedankenverloren auf dem Weg zur Arbeit anstarrt. An dieser Stelle machen sich bereits der Regisseur des Films, seine Vorliebe für überlegt arrangiertes Chaos und entfesselte Kamerafahrten, diesmal ausgeführt von Raimis langjährigem Wegbegleiter Bill Pope (DARKMAN, USA 1990, ARMY OF DARKNESS, USA 1993), bemerkbar. Im gekonnten Wechselspiel zwischen digitalen Tricks und realen Aufnahmen jagt er Spider-Man durch die Straßenschluchten von Manhattan, jedoch (noch) nicht im Duell mit seinem neuen Gegenspieler, sondern bei dem vergeblichem Versuch eine umfangreiche Pizzabestellung rechtzeitig abzuliefern, die ihn als sein Alter-Ego Peter Parker den letzten Nerv kostet. Unterwegs kann er zusätzlich seinem zeitaufwändigen Nebenjob als Beschützer der Schwachen und Schutzlosen nachkommen. Doch selbst seine Spinneninstinkte können nichts an der Tatsache ändern, dass auf Grund einiger Minuten Verspätung die Pizzas der Werbung des Lieferservice gemäß umsonst ausgegeben werden müssen. Nach seiner Rückkehr in die Pizzeria kann sich Peter Parker mal wieder nach einem weiteren schlecht bezahlten Aushilfsjob umsehen.
Sequenzen wie diese erwecken den Eindruck, dass sich Sam Raimi auf dem besten Weg befindet zum Matt Groening der Comicverfilmungen zu werden. Im Gegensatz zu Superman, der seine bürgerliche Existenz bewusst als eine einzige Screwball-Comedy gestaltet, wird Peter Parker immer wieder unfreiwillig von den Problemen des postmodernen Alltags eingeholt. Diese könnten sich in ihrer nachvollziehbaren Absurdität in gleicher Weise auch im Springfield der Simpsons oder im New New York von FUTURAMA ereignen. Wie bei den SIMPSONS erfolgt in SPIDER-MAN 2 streckenweise eine Umverteilung der dramaturgischen Akzente. Spektakuläre Ereignisse ziehen geringe Konsequenzen nach sich, während die vermeintliche Alltagsroutine sich unerwartet in einen Horrortrip verwandeln kann. Einen Banküberfall des mit künstlichen Tentakeln bewährten Dr. Ock verhindert Spider-Man mit spielerischer Finesse und rettet nebenbei sogar seine bedrohte Tante aus den Klauen des Schurken, der Besuch eines High Society-Events als Fotograf für die Zeitung Daily Bugle gestaltet sich für ihn hingegen als eine einzige Tortur. Er fühlt sich sichtlich deplaziert und gibt sich alle Mühe das launische Jet-Set vor die Linse zu bekommen. Gleichzeitig muss er seinen Freund Harry beschwichtigen, der Spider-Man für den Tod seines Vaters zur Rechenschaft ziehen will, ohne zu ahnen, dass es sich bei der vermeintlichen Nemesis um seinen ehemaligen WG-Mitbewohner handelt. Zum krönenden Abschluss des Abends kann Parker noch die Hiobsbotschaft verarbeiten, dass seine Dauerliebe Mary Jane einen netten nichtssagenden Astronauten heiraten wird. Als wäre noch nicht genug Salz in die offene Wunde gestreut worden, schnauzt ihn sein wie gewohnt übel gelaunter Arbeitgeber J. Jonah Jameson genau in diesem Augenblick an, weshalb er das glückliche zukünftige Brautpaar noch nicht für die Klatschseite seiner Zeitung abgelichtet habe. Der Verfassung des (Anti-)Helden entsprechend lässt der Film das Alltagsdrama in einer grellen Weißblende verschwinden. Die absichtlich versäumte Charakterisierung von Mary Janes auserwähltem Mr. Perfect stellt Sam Raimis Rache an den gerade in ihrer glatten Perfektion abstoßenden Protagonisten des konventionellen Mainstreams dar. Stattdessen stehen die für die Marvel-Comics definierenden Außenseiter im Mittelpunkt der Geschichte. Die alltäglichen Ereignisse zwischen dem Superhelden-Pflichtprogramm machen einen wesentlichen Reiz des von Stan Lee initiierten Universums aus, in dem es von sympathischen Underdogs und glaubwürdigen Großstadtneurotikern nur so wimmelt. Angesichts von mies bezahlten McJobs, einem frustrierenden Langzeitstudium und verdrängtem Liebeskummer kann der in anderen Blockbustern überstrapazierte epische Kampf zwischen Gut und Böse aus sehr verständlichen Gründen schon mal zur Nebensache geraten. Spider-Man hat sich nicht nur mit Dr. Ock herumzuschlagen. Er muss auch mit Problemen wie der unerwarteten Begegnung mit einem Nachbarn fertig werden. Dieser mustert ihn sichtlich erstaunt, als er auf dem Heimweg vor Erschöpfung in voller Montur den Fahrstuhl nimmt. Den sich aus dieser Situation ergebenden Dialog über unbequeme Superheldenkostüme nutzt Raimi nicht als lieblosen Lückenfüller, sondern spielt ihn in bester Kevin Smith-Tradition in voller Länge aus.
Dennoch erscheint die subtile Ironie des Films an keiner Stelle penetrant. Raimi vollführt einen beeindruckenden Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Pulp-Drama und Komödie. In SPIDER-MAN 2 kombiniert er den bissigen Humor der frühen Arbeiten wie DARKMAN und der EVIL DEAD-Trilogie mit den ruhigeren Momenten seiner späteren Filme wie A SIMPLE PLAN und THE GIFT. Postmoderne Brüche stehen unmittelbar neben klassischen Konflikten des Comicgenres. Wie einige seiner Kollegen vor ihm wird Peter Parker der Rolle des Superhelden überdrüssig und hängt zeitweise das Kostüm an den Nagel (bzw. befördert er es in die Mülltonne, woraus sich eine weitere originelle Nebengeschichte ergibt). Raimi verzichtet jedoch konsequent auf den Bombast, mit dem gewöhnlich diese Standardsituation inszeniert wird. SPIDER-MAN 2 vertritt wie auch die X-MEN-Adaptionen von Bryan Singer schon fast eine Art New Hollywood-Variante der Comicverfilmungen. An dieses baut Raimi wie beiläufig einige Reminiszenzen ein, wenn Peter Parker zu „Raindrops Keep Falling On My Head“ sein von den Zwängen des Superheldendaseins befreites Leben genießt und am Ende realisiert der Film eine modernisierte Variante von THE GRADUATE, in der Spidey die passive Rolle zukommt. Auf unangestrengte Weise spielt Raimi während einer Szene, in der Doctor Ocks mechanische Tentakel auf dem Operationstisch ein gefährliches Eigenleben entwickeln, sogar auf seine Anfänge im Fun-Splatter an.
Wie im Comic erweisen sich Spider-Mans Gegner als tragische Figuren, die zu Opfern ihrer eigenen Hybris werden. Sie funktionieren als eine Variante von Tim Burtons BATMAN-Charakteren im Schnelldurchlauf. Alfred Molina als tragischer Mad Scientist Doc Ock steht zwar nicht wie zuvor Willem Dafoe im Mittelpunkt der Handlung, erhält aber genügend markante Szenen, um seinem Charakter genügend Profil jenseits der gewohnten Schablonen zu verleihen. James Franco als Sohn des verstorbenen Green Goblin übernimmt hingegen zunehmend die Eigenschaften seines größenwahnsinnigen Vaters. Im Unterschied zum vermeintlichen Status Quo traditioneller Comicserien entwickeln sich die Protagonisten des ersten Teils weiter. Kirsten Dunst bekommt endlich Gelegenheit ihre im Vorgänger zu passiv ausgefallene Rolle zu variieren und Tobey Maguire, der sich entgegen aller anfänglichen Kritik als die Idealbesetzung für Peter Parker erwies, verwandelt sich zunehmend in den sarkastischen Melancholiker und Langzeitstudenten der Vorlage. Sam Raimi baut in SPIDER-MAN 2 jene Ansätze aus, die im ersten Film auf Grund der zu traditionell gestalteten zweiten Hälfte zu kurz kamen. Die Handlung widmet sich nicht mehr alleine der Konfrontation zwischen Spider-Man und seinem Gegenspieler, sondern lässt sich auf die Nebenstränge und episodischen Zwischenspiele ein, die den Reiz des Marvel-Universums ausmachen. Anscheinend gehört es zu den ungeschriebenen Gesetzen der Comicverfilmungen von Tim Burtons BATMAN bis zum ersten SPIDER-MAN, dass sich die erste Folge eines Franchises länger als nötig mit Standardsituationen aufhalten muss, bevor das dargestellte Universum seinen eigenen Reiz entfalten kann. Von einigen Ausnahmen wie X-MEN und HELLBOY abgesehen wird dieser Schritt in der Regel erst im zweiten Teil vollzogen. In diesem können die Origin Story und die wesentlichen Konflikte als bekannt vorausgesetzt werden, so dass mehr Zeit für die Charaktere und den Comic-Alltag bleibt. Die Sequels geben sich meistens auch nicht mehr mit dem Ausgangszustand der Pop-Heldenmythologie zufrieden. Batman wird der eigenen Maskierung überdrüssig, die X-Men gehen zwangsweise zeitweise eine Allianz mit ihrem ehemaligen Kontrahenten ein und Spider-Mans mühsam aufrecht erhaltene Geheimidentität wird zu einem offenen Geheimnis, das er nicht länger vor seinen Freunden verbergen kann. Das Pathos des ersten Teils wird am Ende des zweiten auf charmante Weise revidiert.
Wie Peter Jackson, Bryan Singer und Tim Burton gehört Raimi zu den wenigen Ausnahmetalenten, die es auf Grund ihrer Leidenschaft selbst bei millionenschweren Studioproduktionen schaffen ihre persönliche Handschrift nicht nur in den Film einzubringen, sondern in diesem zweischneidigen Rahmen auch weiter zu entwickeln. Wenn die Marvel-Adaptionen nur ansatzweise das von Raimi und Singer gesetzte Niveau beibehalten können, werden sie noch für einige Zeit eine der produktivsten und intelligentesten Ausnahmeerscheinungen im Hollywood-Mainstream bleiben. Darüber hinaus bilden sie einen produktiven Gegenakzent zum regressiven Schematismus, der im Umfeld von Michael Bay und seinen Epigonen wieder auf der Tagesordnung steht.