AndreasRauscher

Grand Theft Auto

Eine Rundfahrt durch die Genrewelten von GTA SAN ANDREAS

 

1. Filmische Spielwelten

Das Verhältnis zwischen Videospielen und Filmen gestaltete sich nicht immer einfach. Zahlreiche mittelmäßige Lizenzprodukte versuchten schnelles Geld im Zug eines erfolgreichen Blockbusters zu machen und blieben in Sachen Originalität gelegentlich sogar hinter den Kaffeetassen zum Film zurück. Zwar zeichnet sich allmählich eine Trendwende ab, nachdem einige Regisseure mittlerweile über ein umfangreiches Hintergrundwissen in Sachen Videospiele verfügen und wie beispielsweise Peter Jackson in einigen Fällen sogar selbst auf die Entwicklung der Spiele zu ihren Filmen achten.

Eine Alternative zur oberflächlichen Bezugnahme auf filmische Vorbilder entwarf die Firma Rockstar Games mit der seit 1997 erfolgreichen Serie GRAND THEFT AUTO (abgekürzt als GTA). Diese nutzt Vorbilder aus dem Bereich des Gangsterfilms, um sie, ergänzt um zahlreiche Verweise auf die Popkultur der achtziger und neunziger Jahre, zu einem reizvollen Setting für die Spiele auszugestalten. Im Mittelpunkt der einzelnen Teile stehen von ihren Verbündeten verratene Gangster, die sich als zynische Variante des American Dream an die Spitze der Mafia hocharbeiten. Wie einst Clint Eastwood in FOR A FISTFUL OF DOLLAR (Italien/Spanien 1966) verstehen sie es gekonnt die verschiedenen Fraktionen der Unterwelt gegeneinander auszuspielen. Auch im 2004 für die Playstation 2 und 2005 für den PC und die Xbox erschienen, fünften Teil der Reihe SAN ANDREAS gerät der nach einigen Jahren in seine an Los Angeles angelehnte Heimatstadt zurück gekehrte, farbige Protagonist CJ in ein tödliches Intrigennetz. Die Flucht aus der von Bandenkriegen und intriganten Cops gezeichneten Stadt lässt ihn eine groteske Variante des Road-Movie-Topos der Lovers-on-the-run mit der bereits aus GTA 3 bekannten, unberechenbaren Psychopathin Catalina erleben. Im Exil in San Fierro (alias San Francisco) gestrandet versucht er die Geschäfte der Gegner zu sabotieren und gerät an einen blinden Yakuza-Boss, der wie das kriminelle Gegenstück zum Marvel-Helden Daredevil erscheint. Zeitweise avanciert CJ sogar zum Regierungsagenten wider Willen und nimmt in Las Venturas (Las Vegas) an einem amüsanten Casinoraub teil.

 

Die Neue Medien-Expertin Carolyn Handler Miller nennt in ihrem Standardwerk über die Methoden des Digital Storytelling das 2003 erschienene, vierte Spiel der Reihe GTA VICE CITY als Beispiel für eine gelungene Kombination aus einer fesselnden Geschichte und einem Spielkonzept mit beachtlicher Handlungsfreiheit. In ihrer kurzen Beschreibung des Spiels weist sie auf einen wichtigen Aspekt hin: „One of the game’s most outstanding qualities, and what makes it entirely unlike a film, is the immense freedom you have to move around and do things. You are in no way locked into a linear path.” 

Immer wieder lösen die GTA-Spiele den in seiner Grundstruktur klassischen Gangster-Plot auf. Sie bieten dem Spieler Gelegenheit die detailliert gestalteten Stadtlandschaften zu erkunden oder in skurrile Subplots abzutauchen, wie etwa den Kleinkrieg zwischen konkurrierenden Modell-Flugzeugbauern oder die Eskapaden eines Pornoregisseurs, der sich für den nächsten Steven Spielberg hält und ein erotisches Remake von JAWS / DER WEISSE HAI (USA 1976) drehen will. Nachdem der Spieler eine Reihe von Aufgaben erfüllt hat, tauchen die entsprechenden Markierungen auf der Spielkarte auf, mit denen er die nächsten entscheidenden Wendepunkte der Handlung auslösen kann. Es bleibt jedoch ihm / ihr selbst überlassen, ob er sich nicht vorher noch in einer weiter ausgedehnten Rundfahrt die Stadt genauer anschauen oder sich mit einem Minispiel wie der Zustellung von Pizzas vom brutalen Gangsteralltag ablenken will.

In den virtuellen Stadtlandschaften, die wie Frank Millers SIN CITY nur aus Gangstern und eigenwilligen Freaks zu bestehen scheinen, lassen sich deutlich die filmischen Vorbilder erkennen. Liberty City in GTA 3 wurde von den MEAN STREETS (USA 1971) aus Martin Scorseses Gangster-Filmen beeinflusst. Der das erste Drittel des Spiels umfassende Kampf um Chinatown stammt hingegen aus Michael Ciminos YEAR OF THE DRAGON (USA 1985). Für VICE CITY dienten Brian De Palmas SCARFACE-Remake (USA 1983) und Michael Manns Neo(n)-Noir-Serie MIAMI VICE (USA 1984-1989) als Vorbilder. Der Protagonist wohnt in der gleichen Villa wie Al Pacino als Drogenbaron Tony Montana, das Stadtbild wird von Retro-Neonkulissen dominiert und im Radio läuft Crockett’s Theme von Jan Hammer.

 

Für den aktuellen Teil SAN ANDREAS begab man sich auf eine schmale Gratwanderung, indem man neben dem unproblematischen Rat Pack-Terrain Las Vegas, in dem Elvis-Doppelgänger den Boulevard entlang flanieren, und dem für Autojagden mit seiner Hügellandschaft optimal geeigneten San Francisco ausgerechnet die Ghettos von South Central als Schauplatz auswählte.

Glücklicherweise gelingt der Balanceakt zwischen Hip Hop-Hommage und Hood-Drama auf Grund des ironischen Gamedesigns und einer ausgewogenen Dramaturgie, ohne in virtuellen Elendstourismus abzudriften. Die Darstellung der Bandenkonflikte wird in den Cutscenes zu einem klassischen Drama um Familienbande, Freundschaft, Loyalität und Verrat ausgebaut und das Erscheinungsbild der Hood erinnert eher an die ästhetisierten Zerrbilder des Gangsta Rap, als an den harten Realismus von MENACE II SOCIETY, der angesichts der actionbetonten Spielaufgaben deplatziert bis zynisch wirken würde. Jene Vorbehalte, die Spike Lee 1995 in CLOCKERS an Hand eines fiktiven Gangsta-Videospiels thematisierte, erfüllt SAN ANDREAS daher nicht. Sogar die Integration der L.A. Riots in das Finale des außergewöhnlichen Spiels erscheint nicht aufgesetzt, sondern eher als ein Signal, dass Games sich zunehmend auch an ein erwachsenes Publikum richten.  

 

2. Viel Lärm um Kalten Kaffee – Die GTA-Kontroverse

Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Steven Johnson untersuchte in seinem viel diskutierten Buch Everything Bad is Good For You (2005) die Förderung der kognitiven Fähigkeiten des Publikums durch die gegenwärtige zunehmend komplexere Popkultur. Neben TV-Serien mit dramaturgisch anspruchsvollen Erzählstrukturen wie den SOPRANOS und 24 widmet er ein ganzes Kapitel den immer wieder gerne von Kulturpessimisten ins Visier genommenen Videospielen. Knapp und präzise weist Johnson darauf hin, dass „the great majority of television viewers understand that the violence they encounter on these contemporary shows is fiction; they understand that they should not look to Tony Soprano for moral guidance, or model their real-world driving on their GRAND THEFT AUTO excursions.”

Nachdem Fredric Werthams küchenpsychologische Aufklärungsbücher und Hetztiraden über die homoerotischen Untertöne von Batman und die Gefahr, dass Kinder nach der Lektüre von Superman-Comics in dem Glauben, sie könnten fliegen aus dem Fenster springen würden, Staub angesetzt haben und die Horrorfilme der 1970er Jahre mittlerweile zum popkulturellen Kanon gehören, müssen die Videospiele seit zwei Jahrzehnten als neue Zielscheibe für Klischees aller Art herhalten. Teilweise versäumen es die in vielen Fällen alles andere als informierten Gegner sogar sich neue Argumente zu suchen, so dass die Greatest Hits der Vorbehalte gegen Fernsehen, Film und Comics noch einmal im Kreuzzug gegen die neuen Medien herhalten müssen. Die Debatte um das jugendgefährdende Potential des so genannten Hot Coffee-Patches für San Andreas, der einige schlichte, reichlich harmlose Sex-Mini-Games frei schaltet, führte in den USA dazu, dass zahlreiche Läden das Spiel boykottierten. Schmierenkomödien dieser Art unterstreichen nicht nur, dass offensichtlich eine reichlich alberne, an zotige C64-Games für ständig kichernde Teenies aus den 1980er Jahren erinnernde Mini-Spiel-Parodie ein größeres Problem für die Gesellschaft darstellt als die Verteilung des Rekrutierungsshooters AMERICA’S ARMY an Schulen oder die im Kontext eines anderen, weniger dramaturgisch elaborierten Spiels durchaus fragwürdige Simulation eines virtuellen Bandenkriegs. In einem Interview mit dem Magazin GEE betonte Rockstar-Geschäftsführer Terry Donovan, dass es an der Zeit wäre mit erwachsenen Spielen auf das älter werdende Publikum zu reagieren. Der provokative Gestus der Rockstar-Spiele, der sich nicht auf die Realität, sondern auf medial vorgefertigte Topoi der Popkultur bezieht, erscheint als bewusster Gegenentwurf zu den cleanen Spielwelten der Mainstream-Produzenten., so wie sich die Underground-Comics der späten sechziger und frühen siebziger Jahre vom Disney-Mainstream unterschieden.

Natürlich besteht die Gefahr, dass der ausgestellte Sarkasmus zum Selbstzweck wird oder sich in pubertären Kontroversködern verliert, aber die GTA-Serie entgeht diesem Schicksal, indem sie es versteht immer wieder einen gekonnten satirischen Subtext einzubeziehen, durch den die zweischneidigen Stereotypen relativiert werden. In dem Waffengeschäft Ammu-Nation, „the leading store in the free world’s fight against communism“, wird John Milius’ erzreaktionäre Brat Pack-Mobilmachung RED DAWN (USA 1986) als Dokumentation beworben. Um der Karriere des dilettantischen Möchtegern-Gangsta-Rappers OG Loc auf die Sprünge zu helfen, muss der Spieler das Reimbuch des Rap-Stars Madd Dogg in einer an Agentenspiele wie SPLINTER CELL erinnernden Stealth Mission klauen. Junk-Food-Ketten wie der Kentucky Fried Chicken-Verschnitt Clucking Bell versuchen in Form eines Radio-Jingles mit dem Hinweis, dass man sich mit einem millionenschweren, multinationalen Konzern anlegen würde, alle Proteste in ihre Schranken zu verweisen. Moralinsaure Senatoren und Fernseh-Prediger erweisen sich als korrupt bis in die Knochen oder leicht erpressbar und ein rätselhafter Regierungsagent kennt die Wahrheit über Experimente, die das amerikanische Militär mit außerirdischem Gestein in der Wüste von Nevada anstellt.

 

3. Virtuelles All-Star-Ensemble

Das Personal von SAN ANDREAS vereint eine ganze Reihe von auf Musik und Filme bezogenen Pop-Archetypen. Der intrigante Officer Tenpenny und sein Partner Pulaski wurden nach dem Leinwand-Image ihrer Tarantino-erprobten Darsteller Sam Jackson und Chris Penn gestaltet. CJ’s Homies beziehen sich mit ihren Jerry Curls und den schwarzen Hüten auf bekannte Gangsta-Rap-Ikonographien. Der verantwortungsbewusste Sweet wurde hingegen nach jenen Rolemodel-Charakteren gestaltet, die sich in den Filmen von John Singleton (BOYZ N THE HOOD, FOUR BROTHERS) finden und wie sie von Ice Cube und ICE-T als Kompromiss zwischen Gangsta und sozialkritischem Kommentator auf ihren Alben in den frühen 1990ern vertreten wurden.

Lediglich das etwas einseitige Frauenbild erscheint verbesserungsbedürftig. Trotz einiger Nebenfiguren mit dem Potential zur Differenzierung, wie etwa der von Rapperin Yo Yo gesprochenen, verantwortungsbewussten Schwester des Protagonisten CJ in SAN ANDREAS oder einer asiatischen Mobsterin in GTA 3, beschränken sich die meisten weiblichen Charaktere auf Sidekicks oder Karikaturen. Allerdings sollte man hinsichtlich dieser Frage im Auge behalten, dass es eigentlich im ganzen Spiel keine durchgehend realistisch erscheinende Figur gibt. Fast alle Charaktere lassen sich auf medialisierte Vorbilder oder Rollenfiguren aus der Geschichte ihrer Darsteller zurückführen. Die Auftritte der zahlreichen prominenten Gastsprecher können sich in ihrem Anspielungsreichtum schon fast mit den SIMPSONS messen. In VICE CITY spielt der aus der Versenkung zurückgeholte Philip Michael Thomas die intrigante Gangster-Variante des einst von ihm dargestellten MIAMI VICE-Detectives Tubbs, Actionveteran Robert Davi mimt in Anlehnung an seine Rolle in dem teilweise in Florida angesiedelten James Bond-Film LICENCE TO KILL einen Drogenbaron und Ray Liotta leiht als GOODFELLA dem vom New Yorker Mob hintergangenen Protagonisten Tommy Vercetti seine Stimme. In SAN ANDREAS klärt Peter Fonda als ständig unter Drogen stehender Alt-Hippie den Spieler über alle möglichen Verschwörungstheorien auf und Elder Statesgangster ICE-T tritt als Gangsta-Rapper auf, der ganz wie im wirklichen Leben Schwierigkeiten hat, an den Erfolg vergangener Tage anzuknüpfen. Die ästhetischen Parallelen zur Rap-Szene werden durch weitere Rollen der aktuellen Hip Hop-Stars The Game, MC Eiht und Big Boy von Outkast zusätzlich verstärkt.

 

4. Spielerische Reflexionen zur Popgeschichte

Das Äquivalent zu den anspielungsreichen Auftritten der Synchronsprecher bildet auf der Soundtrack-Ebene die sorgfältige Songauswahl, der in Form von verschiedenen anwählbaren Radiostationen ins Spiel integriert wurde. Die Integration des berühmt berüchtigten Disco-Soundtracks zu Brian De Palmas SCARFACE von Georgio Moroder in GTA 3 bildete lediglich den ersten Schritt zu einer ebenso subtilen wie ironischen Aufbereitung der neueren Popgeschichte. In dem zeitlich Mitte der achtziger Jahre angesiedelten VICE CITY wurden neben äußerst unterhaltsamen Moderationen von fiktiven DJs wie dem Latino Lover Fernando, der in anderen Teilen der Serie als Berater für Beziehungsangelegenheiten wieder auftaucht, Anspielungen auf die Pop-Trends der damaligen Zeit eingebaut: Synthesizer gelten als die Zukunft der Musik, New Wave-Shows werden von der Werbung für ein Musical mit dem vielsagenden Titel „In the future there will be robots“ unterbrochen, auf dem Heavy Metal-Sender beschwert sich ein Anrufer, dass er keine weichgespülten Softrock-Balladen mehr hören kann und für die im Radio interviewte schottische Poser-Rock-Band Love Fist, die nachdem sie in Europa keine Erfolge mehr verbuchen konnte, ihr Glück in Florida versucht, wird der Protagonist im Verlauf des Spiels noch als Drogenkurier und Bodyguard tätig.

Old School Rap wurde in VICE CITY noch von einem Piratensender ausgestrahlt. In SAN ANDREAS zeichnet sich hingegen mit einer von Public Enemy-Texter Chuck D moderierten Classic Rap-Show, einem lokalen Westcoast-Acts promotenden Gangsta-Rap-Radio, einem eigenen Kanal für die Ursprünge bekannter Samples, einer von Parliament-Bandleader George Clinton präsentierten Funk-Selection und einem Urban Soul-Sender der Einzug der ehemaligen Subkultur in den Mainstream ab. Dass selbst das hierzulande nur marginal bekannte und heute nicht mehr wirklich im popkulturellen Gedächtnis verankerte R’n’B-Subgenre Swingbeat mit seinen Protagonisten wie Bell, Biv, Devoe, Wreckx-N-Effect und Guy, die als „Sound der seidenbezogenen Betten“ (wie das Magazin Spex 1993 urteilte) einen auf Hochglanz polierten Gegenentwurf zum Gangsta-Rap skizzierte, über einen eigenen Sender verfügt, spricht für die faszinierende Detailverliebtheit Rockstars. Sämtliche mit den Genres verbundenen Diskurse werden ebenfalls in die Moderationen integriert. Im Generation-X-Programm, das sämtliche Indiestream-Crossover-Erfolge der frühen neunziger Jahre von Helmet über Faith No More bis zu Jane’s Addiction versammelt, sinniert die Moderatorin darüber, von wem sich der so genannte Alternative-Rock überhaupt noch abgrenzen soll und kündigt die Vorführung expressionistischer Stummfilme an, die im Stadtpark von San Fierro auf einen Baum projiziert werden. Der House-DJ Hans Oberländer erscheint hingegen nach drei Tagen Dauersendung etwas ausgebrannt und neigt zu hysterischen Ausbrüchen. Für ewiggestrige Rockisten gibt es schließlich noch einen von Axl Rose moderierten Sender, auf dem ausschließlich „handgemachter“ Seventies-Rock läuft, für den man laut Eigenwerbung reif ist, wenn alle Kumpels aus den Siebzigern mal wieder im Entzug sitzen.

Die Radiosendungen in GTA SAN ANDREAS funktionieren als eigenständige Hörspiele für sich, ergänzt um Talk-Shows, in denen energische Diskussionen über das gefährliche Potential der Videospiele geführt werden. Sie tragen neben dem detailverliebten Design und den versteckten Mini-Spielen entscheidend zum Reiz der Simulation bei. Wie der Spieltheoretiker Gonzalo Frasca treffend bemerkt, läuft GTA im Vergleich zu einigen Rollenspielen gar nicht erst Gefahr, dass sich der Spieler wie ein überstrapazierter Lieferjunge, der immer wieder die gleichen, endlosen Strecken zurücklegen muss, vorkommt. Der Reiz von GTA SAN ANDREAS besteht neben der Entwicklung der Handlung mit ihren einprägsamen Charakteren in der Erkundung der zahlreichen Attraktionen im weitflächigen Gangstaland.

 

5. Gangsta Theme Park und Hood-Drama

 Diesmal beschränkt sich der Simulationsaspekt nicht nur auf absurde Zwischenspiele, in denen man sich trotz des Status als erfolgreicher Nachwuchs-Pate immer noch als Fahrradkurier und Taxifahrer betätigen kann. Klassische Spielformate wie ein Basketball-One-on-One, Triathlon-Wettbewerbe, ein BMX-Parcours und eine rasante Mountain Bike-Abfahrt wurden in die Spiellandschaft integriert. Sogar der neuere Trend der Tanzspiele findet sich im Rahmen einer Strandparty-Mission oder bei diversen Discobesuchen. Die Dates bieten hingegen eine zynische Persiflage auf die cleanen Suburbia-Welten von Alltagssimulationen wie THE SIMS. Neben gepflegten Restaurantbesuchen, kann CJ mit seiner Freundin auf deren Wunsch hin Drive-By-Shootings unternehmen. Als selbstreflexiver Gag lassen sich verschiedene Mini-Spiele an, über ganz San Andreas verstreuten, Automaten ausprobieren. In diesen Spielen finden sich Arcade-Standardsituationen wie der Kampf eines einzelnen Raumschiffs gegen Legionen von Angreifern und als Gegenakzent zum gewalttätigen Gangsterszenario kann man ganz in der Tradition pädagogisch wertvoller Nintendo-Spiele auch mit einer Biene Honig sammeln. Auf einem verlassenen Flughafen in der Wüste von Nevada lernt man ganz im Stil alter Simulationsspiele den Umgang mit verschiedenen Flugzeugen. Gerade die Eigenständigkeit der Spielwelt lässt den Spieler die trotz aller Entscheidungsfreiheit und Seitenarme doch insgesamt relativ linear angelegte Handlung intensiver erleben.

Die verschiedenen Missionen bieten eine ausgewogene Mischung aus unterschiedlichen Spielprinzipien. Neben den bereits aus den Vorgängern vertrauten Autorennen und Shooter-Aufträgen werden auf reizvolle Weise verschiedene Formate kombiniert. Ein schief gelaufenes Bandentreffen leitet in eine wüste Verfolgungsjagd mit Anspielungen auf die Truckjagd in TERMINATOR 2 (USA 1991) über. Streckenweise muss der Spieler auch einfache Überwachungsmissionen ausführen, bei denen er nicht weiter auffallen darf. Die späteren Aufträge mit einem Raketenrucksack erinnern hingegen an eine absurde Gangster-Variante bekannter James Bond-Standardsituationen. Las Venturas dient als Kulisse für einen klassischen Heist-Movie-Coup im OCEAN’S 11-Stil, der einige absurde Wendungen bereithält. Die Auftragsarbeiten für einen ominösen FBI-Agenten, der eine Vorliebe für Sprechanlagen an den unmöglichsten Orten hat, wirken wie eine Persiflage auf CHARLIE’S ANGELS. Der Verrat der eigenen Verbündeten und die Erpressung durch zwei heimtückische Cops, die aus einem Roman von James Ellroy stammen könnten, erscheint hingegen relativ dramatisch. Statt die Wendepunkte nur in Cutscenes präsentiert zu bekommen, muss der Spieler einige der Plot-Points ganz ausspielen. Auf diese Weise erscheinen auch Situationen spannend, die man in einer filmischen Version des gleichen Plots für gewöhnlich halten würde. Doch gerade im spielerischen Rahmen erscheinen Konstellationen wie eine Western-typische Belagerungssituation oder die plötzliche Entlarvung eines Verräters auf Grund der unmittelbaren eigenen Beteiligung auf neue Art reizvoll und steigern das Spielerlebnis.

 

Der einfallsreiche Umgang mit filmischen Vorbildern, der cineastische déjà-vus produziert und dennoch im Unterschied zu zahlreichen fehlgeschlagenen Fließband-Film-Adaptionen das in sich geschlossene und detailverliebte Spielkonzept in den Vordergrund stellt, bietet ein überzeugendes Modell für einen produktiven Austausch zwischen Filmen und Videospielen. Rockstar Games bezieht die popkulturelle Eigendynamik und Geschichte der beiden Medien in das Gamedesign der GTA-Spiele ein, ohne sich in ausufernden Cutscenes zu verlieren oder den Spielfluss durch ästhetisch reizvolle, aber für die Steuerung des Avatars äußerst hinderliche virtuelle Kamerafahrten zu behindern. Mit der GTA-Serie gelang es Rockstar-Games ein stilprägendes Konzept zu etablieren, das auf Grund der wechselnden pop- und filmgeschichtlichen Bezüge eine Vielzahl von Variationen zulässt. Anstatt sich auf die spielerisch mäßige Imitation bekannter filmischer Vorbilder einzulassen, kombiniert GTA Anspielungen auf Film, Musik und Games zu einem eigenständigen virtuellen Universum. Angesichts der selbst im fünften Teil nicht nachlassenden Kreativität, kann man auf die von Rockstar realisierte Adaption von Walter Hills Banden-Actiondrama THE WARRIORS (USA 1979), die als eigenständige Erweiterung des filmischen Raums angelegt ist, gespannt sein. 

 

Games:

GRAND THEFT AUTO (1997), GTA 2 (1999), GTA 3 (2002), GTA – VICE CITY (2003) und GTA – SAN ANDREAS (2004/05) von Rockstar Games werden von Take 2 / Interactive vertrieben. Die drei letztgenannten Spiele sind für PC, Xbox und Playstation 2 erschienen.

 

Literatur

  • Gonzalo Frasca: „Sim Sin City – GTA 3“ (2003) – in dem Online-Magazin www.gamestudies.org veröffentlichter, sehr empfehlenswerter Artikel.
  • Carolyn Handler Miller: Digital Storytelling. (Oxford, 2004) – Einführung in die Dramaturgie des digitalen Geschichtenerzählens. Angenehmerweise versteht es die Autorin, die in den achtziger Jahren selbst Adventures programmierte, die Eigenständigkeit der Spiele einzubeziehen und narrativistische Mogelpackungen zu vermeiden.
  • Steven Johnson: Everything Bad is Good For You.(London, New York, 2005) – Der Kommunikationswissenschaftler und Kolumnist des bekannten Magazins Wired erläutert anschaulich am Beispiel von Serien wie The Sopranos und verschiedenen Videospielen von Legend of Zelda bis GTA, weshalb entgegen aller kulturpessimistischen Vorurteile die Popkultur in den letzten zwanzig Jahren komplexer geworden ist.