The Filth and the Fury
(ursprünglich erschienen in Splatting Image Dezember 2001)
Die in THE FILTH AND THE FURY geschilderten Ereignisse um die Sex Pistols und die Punkszene im London der späten 70er gehören mittlerweile zu den Standards der Popgeschichte – von ihrer Performance der Nummer 1-Single „God Save the Queen (The Fascist Regime)“ auf einem Boot auf der Themse parallel zu den pompösen Feierlichkeiten des Krönungsjubiläum 1977, bis hin zum Tod der „No Future“-Ikone Sid Vicious und seiner Freundin Nancy Spungen in New York. Poptheoretiker Greil Marcus hat in seinem Buch „Lipstick Traces“ detailliert die Verbindungen zwischen Punk und avantgardistischer Aktionskunst erläutert, und Jon Savage verfasste mit „England´s Dreaming“ eine epische soziokulturelle Chronologie der Szene.
Mit dem rasanten Aufstieg und Fall der Sex Pistols setzten sich bereits die Punk-Farce THE GREAT ROCK´N´ROLL SWINDLE (GB 1979) auf satirische, Alex Coxs düsteres Biopic SID AND NANCY (USA / GB 1987) auf dramatische und der kaum bekannte DEAD ON ARRIVAL (USA 1981) auf dokumentarische Weise auseinander. Auf den ersten Blick scheint dieses Thema in allen Varianten hinreichend abgefrühstückt, und dennoch zählt THE FILTH AND THE FURY zu den spannendsten Dokumentationen der letzten Jahre. Denn die bisherigen Filme beschäftigten sich mit allem möglichen, von der selbstverliebten Darstellung des Managers Malcolm McLaren, der sich in ROCK´N´ROLL SWINDLE als situationistischer Puppenspieler und heimliches Mastermind hinter der Band in Szene setzen ließ, bis zur (in einigen Aspekten durchaus gelungenen) romantischen Verklärung des in SID AND NANCY von Gary Oldman mit faszinierender Besessenheit dargestellten Fashion Victims Sid Vicious. Nur die überlebenden Band-Mitglieder John „Rotten“ Lydon, Steve Jones, Paul Cook und Glen Matlock selbst hatte kaum jemand gefragt. Lediglich einzelne Interviews und Lydons 1994 mit viel bissiger Selbstironie verfasste Autobiographie deuteten an, dass es noch eine andere Geschichte neben der offiziellen Pop-Punk-Mythologie gibt, die sich in THE FILTH AND THE FURY als Tragikomödie erweist.
Lydons viel zitierte Worte nach dem vorerst letzten Konzert der Sex Pistols in San Fracisco – „Ever had the feeling of being cheated?“ – bezogen sich nicht, wie es THE GREAT ROCK´N´ROLL SWINDLE nahe legt auf das Publikum. In erster Linie beschrieben sie seine eigene Situation als Aushängeschild einer kurz vor der Implosion stehenden Band, deren Manager das sich anbahnende Drama nur als postmodernen Treppenwitz und manipuliertes Spektakel auffasste.
Regisseur Julien Temple liefert mit THE FILTH AND THE FURY die Korrektur seines eigenen zwanzig Jahre zuvor, kurz nach dem Ende der Band und ohne die Beteiligung Lydons entstandenen Films THE GREAT ROCK´N´ROLL SWINDLE. In einer Mischung aus Melancholie und selbstbewusster Ironie kommentieren Lydon, Cook, Jones und Matlock die Entwicklung der Band, die das Verständnis von Pop gravierend verändern sollte, um dann Jahre später doch noch im Back-Katalog des britischen Medienkonzerns EMI zu landen, der in den 70ern den Sex Pistols eine beachtliche Abfindung zahlte, um die kontroverse Gruppe nach der ersten Single vorzeitig aus dem gerade erst abgeschlossenen Vertrag zu entlassen. Das in THE FILTH AND THE FURY verwendete dokumentarische Material aus den 70ern stammt aus dem umfangreichen Archiv an Aufnahmen, das Temple damals für einen geplanten Sex Pistols-Film sammelte.
Regisseur und Band entmystifizieren in THE FILTH AND THE FURY nicht nur die gängigen Punk-Legenden, sondern veranschaulichen auch durch Nachrichtenausschnitte, Werbespots und TV-Kommentare die gesellschaftlichen Hintergründe der damaligen Zeit. Der Soundtrack macht es sich dabei nicht in der auf Dauer eindimensionalen Punk-Nostalgieschiene bequem, sondern unterstreicht durch den gelegentlichen Einsatz von Dub-Reggae die in Vergessenheit geratenen Verbindungen, die zwischen der Punk- und der Reggae-Szene bestanden. Durch das entspannt groovende „Way Over in Dub“ erzielt die Performance während der Jubiläumsfeierlichkeiten auf der Themse einen gänzlich anderen Effekt als im GREAT ROCK´N´ROLL SWINDLE, der wie SID AND NANCY lediglich die spektakuläre Situation in den Vordergrund stellt.
Ursprünglich sollte der Pistols-Film Mitte der 70er vom amerikanischen Starkritiker Roger Ebert verfasst und von Russ Meyer gedreht werden. Nachdem der sexbesessene Trash-Papst bereits nach wenigen Tagen London wieder fluchtartig verließ, schlug Lydon Graham Chapman von Monty Python als Ersatz-Regisseur vor. Leider scheiterte das Unternehmen, bevor die erste Klappe fiel, da Pistols-Manager McLaren keinerlei gemeinsame Basis mit den Pythons finden konnte. Die erste Hälfte von THE FILTH AND THE FURY vermittelt durch Lydons pointierten Sarkasmus im Nachhinein einen guten Eindruck, welche überraschenden Gemeinsamkeiten zwischen den Sex Pistols und der anarchistischen Internationale um Graham Chapman, John Cleese und Terry Gilliam bestanden. Ein forciertes Commercial, in dem aufdringlich gut gelaunte Teens mit zombiehaftem Dauergrinsen für die „Young Nation“ werben, geht in das markante Intro von „Anarchy in the U.K.“ über. Neben Shakespeares RICHARD III nennt Lydon als einen der wesentlichen Einflüsse auf seine Ausgestaltung der Rolle Johnny Rottens die Music Hall-Auftritte britischer Stand-Up-Comedians. Temples Montage überträgt diesen Ansatz in einer eigenwilligen Collage aus Live-Aufnahmen der Pistols, Comedy-Auftritten und Fragmenten einer alten Shakespeare-Verfilmung auf die Gestaltung des Films. Ausschnitte aus der erfolgreichen Charts-Show „Top of the Pops“ mit Rod Stewart und den singenden Plüschtieren The Wombles verdeutlichen, auf welche biederen und festgefahrenen Strukturen jene Songs trafen, die heute neben den stereotyp gehorteten halbleeren Bierflaschen im Proberaum zu den Standards einer jeden Retro-Garagenband zählen.
Es erscheint als verspätete ausgleichende Gerechtigkeit, dass in THE FILTH AND THE FURY Bassist Glen Matlock zu Wort kommt, der die meisten der Songs mitverfasste und wegen seiner auf sympathische Weise unbeholfenen, nicht dem Image der Band entsprechenden Art vor die Tür gesetzt wurde. Mit dem Engagement von Sid Vicious als Ersatz für den gefeuerten Matlock ändert sich in der zweiten Hälfte langsam auch die Stimmung des Films. Die von Manager McLaren absichtlich lancierten Skandale gerieten in einen riskanten Leerlauf. Genau jene kulturindustriellen Rockstar-Mythen, die Lydon abschaffen wollte, adaptierte Vicious begeistert. Während Lydon immer wieder Distanz zur selbstgeschaffenen Kunstfigur einnahm, ging Vicious begeistert in der ihm zugewiesenen Rolle des Rock´n´Roll-enfant terrible auf. Gerade in Hinblick auf den sich in unreflektiert affirmierten Junkie-Mythen verlierenden Vicious, der im Oktober 1978 vermutlich seine Freundin Nancy Spungen erstach (der Fall ist bis heute nicht ganz geklärt), bevor er im Februar 1979 selbst an einer Überdosis starb, erscheint Malcolm McLarens Kommentar, dass die Sex Pistols sein künstlerischer Spielball waren („Creating something called the Sex Pistols was my painting, my sculpture, my little artful dodgers.“) nicht als raffinierte situationistische Strategie, sondern in erster Linie als zynische Egomanie. Resigniert kommentiert Lydon zusammenfassend die außer Kontrolle geratene Entwicklung, „He [Vicious] died for fuck´s sake and what did they turn it into – making money. You can´t get any more evil, can you?” – Julien Temple bezieht mit THE FILTH AND THE FURY in Form einer dialektischen Montage Stellung, ohne sich auf die Eindeutigkeiten früherer Pistols-Filme einzulassen. Der Film betreibt eine überlegte und intelligente Spurensuche und sichert dabei jene Momente, die Greil Marcus „Lipstick Traces on a Cigarette“ nannte. Abgesehen davon bleibt zu hoffen, dass John Lydon seine 1982 in dem italienischen Psycho-Thriller COPKILLER / ORDER TO DEATH an der Seite von Harvey Keitel begonnene Schauspielkarriere bei Gelegenheit wieder aufnimmt.