Antihero Superstar
8 Mile
(erschien ursprünglich in Splatting Image März 2003)
Regisseur Curtis Hanson zeigt in seinen Filmen ein ausgeprägtes Interesse für
die Mythen des amerikanischen Alltags. In der James Ellroy-Verfilmung L.A.
CONFIDENTIAL interessierte er sich stärker für die Abgründe hinter den medialen
Fassaden des sonnigen Kaliforniens als für die labyrinthartigen Intrigennetze
der Vorlage. WONDERBOYS thematisierte ausgehend von der Begegnung eines
ausgebrannten Collegeprofessors, der einst als literarischer Shooting Star galt,
mit einem Nachwuchstalent die Hypes des Literaturbetriebs. In Hinblick auf das
sichere Gespür für die Neurosen und Ängste hinter den Selbststilisierungen der
Schriftstellerszene wirkte die melancholische Komödie wie ein nach Boston
verlegter Woody Allen-Film.
Auf eine ganz andere Art als Hanson befasst sich Marshall Mathers alias Eminem mit dem amerikanischen Alltag. Aus der Sicht seines Alter Egos Slim Shady schildert der Rapper aus den Trailer Parks von Detroit Anekdoten zwischen comichafter Absurdität und stilisiertem White Trash-Realismus. In 8 MILE gibt der für gelegentliche politisch inkorrekte Entgleisungen berüchtigte Hip Hop-Star sein überzeugendes Debüt als Schauspieler. Hanson verfilmte mehr oder weniger deutlich Eminems eigene Biographie.
Im Unterschied zur von Goldketten und Luxusposen dominierten Ästhetik aktueller Hip Hop-Videos orientiert sich 8 MILE an den mittlerweile etwas in Vergessenheit geratenen Filmen aus den Anfangstagen des Raps. In Produktionen wie WILD STYLE und BEAT STREET standen die sozialen Hintergründe der Szene und nicht der aus dem Erfolg des letzten Bestseller-Albums erworbene Reichtum im Mittelpunkt. Die Geschichte spielt Mitte der 90er Jahre in Detroit und verfolgt den langsamen Aufstieg des von Eminem dargestellten Rappers Rabbit, der sich auf Jams mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, er sei lediglich der Nachfolger der Teenie-Pop-Pseudo-Hip Hop-Horrorgestalt Vanilla Ice.
Curtis Hanson und sein Star verlassen sich auf eine traditionelle Dramaturgie,
die auch in einem Boxerdrama funktionieren würde. Rabbit bringt bei der ersten
Konfrontation mit seinen Gegenspielern von einer lokalen Rap-Posse auf der Bühne
kein Wort heraus, obwohl er bei improvisierten Freestyle-Sessions mit seinen
Freunden immer wieder zu überzeugen versteht. Gedisst und abgefertigt wird der,
wie sein Darsteller ständig zwischen Schüchternheit und latenter Aggressivität
changierende Rabbit zur billigen Zielscheibe für seine Konkurrenten. Neben der
monotonen täglichen Fabrikarbeit muss er sich mit der Tatsache abfinden, dass er
auf Grund finanzieller Schwierigkeiten mit Mitte Zwanzig wieder im Wohnwagen
seiner nur selten nüchternen Mutter gelandet ist. Außerdem stellt sich in
Hinsicht auf seine Karriere als Nachwuchsrapper die Frage, ob er weiterhin auf
seine Posse vertrauen oder für den Einstieg ins Business ein Solo-Projekt
verfolgen soll.
Diese Konflikte aus der Grauzone zwischen Sozialdrama und
Mainstream-Pop-kompatibler Erfolgsstory erscheinen zwar aus anderen Filmen
hinreichend vertraut. Die Stärke von 8 MILE besteht jedoch darin diesen noch
einmal neue Aspekte abzugewinnen. Wie im klassischen Genrekino besteht die
Qualität des Films nicht in spektakulären Innovationen, sondern liegt in den
Variationen und überlegten Abweichungen. 8 MILE funktioniert auf zwei
unterschiedlichen Ebenen: Einerseits setzt Curtis Hanson darin seine Studie über
den amerikanischen Alltag und dessen Mythologien fort, doch gleichzeitig sorgt
die Wahl des Pop-Mythos Eminem als Thema dafür, dass der Film als indirekte
Eminem-Biographie über einen entsprechenden MTV-Appeal verfügt. Eminem und
Rapper aus seinem Umfeld wie der in einem Gastauftritt mitwirkende Xzibit sorgen
dafür, dass die Hip Hop-Jams und Battles im Film realistisch und nicht wie die
Reißbrettzeichnung eines ahnungslosen Sozialpädagogen wirken. Umgekehrt achtet
Hansons präzise Regie darauf, dass der Film nicht einfach zum Begleitprodukt für
einen momentan populären Star wird.
Rabbit weist mehrere Eigenschaften eines klassischen Antihelden auf. Es kostet ihn sichtlich einige Überwindung sein Talent überhaupt auf der Bühne vor einem größeren Publikum zu präsentieren. Bei einer kurzen Affäre mit der Schwester eines Arbeitskollegen muss er bald feststellen, dass er nicht der einzige in ihrem Leben ist. Am Ende gewinnt er das entscheidende Rap-Battle, indem er seine vermeintlichen Schwächen offensiv ausstellt. Mit einer Strategie, die eher an frühe Punkhaltungen als an typische Rap-Posen erinnert, berichtet er darüber, dass er immer noch in einem Trailer-Park bei seiner Mutter lebt, als Weißer ein eher exotischer Fall in der Hip Hop-Szene ist und thematisiert auf ironisch bissige Weise seinen White Trash-Background. Dem Gegner, der ihn beim ersten Versuch noch nach allen Regeln der Kunst vorführen konnte, fallen keine Angriffspunkte, die nicht zuvor bereits in Rabbits Selbstdarstellung vorgekommen wären, ein und er gibt sich geschlagen. Auf der Bühne setzt sich der Rapper zwar gegen seine Konkurrenten durch, aber der weitere Verlauf seiner Karriere bleibt ungewiss. Vorerst kehrt er wieder ans Fließband und zu seinem Fabrikjob zurück. Im Unterschied zu den postmodernen Pop-Märchen der 80er wie PURPLE RAIN und FLASHDANCE steht am Ende nicht der triumphale Durchbruch auf dem unaufhaltsamen Weg zum sicheren Erfolg, sondern lediglich eine Art Etappensieg.
Natürlich machte genau jenes Underdog-Image Eminem zum Antihero Superstar, der
für jede Attacke auf die gängigen Teenie-Popstars von Britney bis Justin einen
weiteren MTV-Award verpasst bekam. Aber Hanson und sein Hauptdarsteller
exploitieren nicht dieses Image. Sie reflektieren es vielmehr, indem sie dessen
Entstehungsbedingungen zeigen, bevor die polierten Oberflächen von MTV kamen,
deren Absurdität Eminem immer wieder effektvoll mit kalkulierten Possen
vorzuführen und zu bedienen versteht. Wichtige Unterstützung für das Gelingen
des Films leistet auch die gut ausgewählte Besetzung. Kim Basinger spielt eine
ihrer besten Rollen und befreit die in Eminems Texten nur als cartoonhaft
verzerrte Schreckensgestalt auftauchende Figur der White Trash-Übermutter von
ihren stereotypen Assoziationen, indem sie andere Seiten akzentuiert als jene
hysterischen Ausbrüche, die Eminem mehrfach auf seinen Alben aufgearbeitet hat.
Auch Brittany Murphy arbeitet in ihrer Rollengestaltung von Rabbits
Teilzeit-Romanze deren sympathischere Seiten heraus und setzt damit einen
pointierten Gegenakzent zu den diversen misogynen Klischeefiguren, die immer
wieder im Rap auftauchen.
Einen wesentlichen Punkt, in dem sich 8 MILE von Routinedramen unterscheidet,
bildet die Auswahl des Settings. Der Film bietet ein unprätentiöses und genaues
Bild der neueren Hip Hop-Szene, die, abgesehen von James Tobacks BLACK AND
WHITE, in den letzten Jahren über die Funktion des reinen Soundtracklieferanten
hinaus sonst nur entweder in Form von Komödien oder in einigen Subplots der
Ghettodramen des New Black Cinema im Kino auftauchte. Die Songauswahl des
Soundtracks verzichtet weitegehend darauf den Film mit aktuellen Rap-Hits zu
unterlegen. Diese finden sich lediglich auf dem ersten der beiden parallel
veröffentlichten 8 MILE-Alben. Stattdessen verwandte man für das Jahr 1995
relevante Rap-Tracks, von Wu Tang Clan über Mobb Deep bis hin zu Tupac Shakur.
8 MILE zählt außerdem zu den wenigen Ausnahmefällen eines Films über Rap, bei
dem die deutsche Synchronisation weitgehend gelungen ist. Im Unterschied zu den
in diesem Bereich handelsüblichen klischeestrotzenden Übersetzungen wie der
katastrophalen Bearbeitung von James Tobacks BLACK AND WHITE, die kein noch so
dämliches Stereotyp auslässt, wurden in diesem Fall die Rap-Passagen gar nicht
erst synchronisiert, sondern sind im Original mit Untertiteln zu hören.
Ein umfangreicher Artikel zum Thema Rap und Film findet sich in dem von Bernd
Kiefer und Marcus Stiglegger herausgegebenen Sammelband Pop und Kino, der
2004 im Mainzer Bender Verlag erschien.