Sin City
Dass die Retrowellen der achtziger Jahre sich nicht zwangsläufig in
autoreflexiven Hochglanz-Zirkelschlüssen verlieren mussten, zeigt sich am
Einfluss klassischer Noir-Elemente auf die Comiclandschaft. Insbesondere Frank
Miller sorgte mit den Daredevil- und Elektra-Comics und der Batman-Graphic Novel
The Dark Knight Returns (1986) für einen Stimmungswechsel in den stagnierten
Superhelden-Comics. Im Unterschied zu trashig bunten Szenarien und pädagogischer
Küchenpsychologie rückte er die Abgründe und die Zuspitzung gesellschaftlicher
Verhältnisse in den Mittelpunkt, von denen auch die einst unantastbaren
Comichelden nicht verschont blieben. Batman kehrte als verbitterter Rächer, der
sich nicht mehr allzu sehr von seinen ehemaligen Gegenspielern unterscheidet,
aus dem Ruhestand zurück und der blinde Daredevil richtete nachts selbst über
jene Verbrecher, die ihm tagsüber in seiner bürgerlichen Existenz als Anwalt
entgangen waren. Millers apokalyptische Stadtbilder, ein schillernder Alptraum
aus Neon, regennassem Asphalt und Gewalt trugen maßgeblich zur stimmigen
Handlung bei.
Es sollte allerdings eine ganze Weile dauern, bis Millers Comicszenarien den Weg
auf die Leinwand fanden. Ansatzweise hinterließen die ausgesprochen filmischen
urbanen Szenarien in den von Miller verfassten, insgesamt aber nicht sonderlich
überzeugenden ROBOCOP-Sequels (USA 1990/93) ihre Spuren. Die Gestaltung der
Batman-Metropole Gotham, die schon immer das dunkle Gegenstück zu Supermans
sterilem Metropolis bildete, übte als Noir-Moloch nachhaltigen Einfluss auf Tim
Burtons BATMAN-Filme (USA 1989/92) aus. Eine über längere Zeit geplante
Verfilmung der Graphic Novel Batman: Year One von Darren Aronofsky wurde jedoch
vom Studio als nicht kommerziell genug abgelehnt, einige Ansätze davon finden
sich noch in Christopher Nolans BATMAN BEGINS (USA 2005). Lediglich Mark Steven
Johnson realisierte mit DAREDEVIL (USA 2003) eine ambitionierte Adaption der
Comics, die Miller in den frühen achtziger Jahren für Marvel verfasste. Johnson
experimentierte darin effektiv mit den Möglichkeiten digitaler Kulissen, mit
deren Hilfe er die Hinterhöfe von Los Angeles in ein stilisiert düsteres,
nächtliches New York verwandelte.
An diesen Punkt knüpfen Robert Rodriguez und Frank Miller in SIN CITY an. In
ihrem Noir-Patchwork gehen sie sogar einen Schritt weiter, indem sie die
gesamten Kulissen als abstraktes Konglomerat aus Noir-Reminiszenzen am Rechner
entstehen ließen. Bis auf einige wenige, meistens blutrote, gelegentlich auch
blaue Farbtupfer wurde der Film komplett mit Digitalkameras in Schwarz-Weiß
gedreht. Lediglich der Kopf eines besonders abstoßenden Psychopathen wurde
eitrig gelb eingefärbt. Der Fatalismus und der nihilistische Sarkasmus der
Vorlage wurde in den drei verfilmten Episoden ohne Abstriche übernommen. Von
Ausnahmen wie DAREDEVIL abgesehen, hatte Miller nicht immer gute Erfahrungen mit
der Adaption seiner Werke durch Hollywood gemacht. Daher lehnte er anfangs eine
Verfilmung der bei dem Independent Verlag Dark Horse erschienen Serie SIN CITY
kategorisch ab. Erst der energische Comicfan Robert Rodriguez, der in den drei
EL MARIACHI-Filmen (USA 1992-2003) ein eigenes, artifizielles
Pulp-Action-Universum entworfen und in FROM DUSK TILL DAWN (USA 1996) seine
Vorliebe für Genrestoffe demonstriert hatte, konnte ihn überzeugen. In bester
Guerilla-Tradition drehte er den Film ausschließlich vor einem Greenscreen,
übernahm die Kameraarbeit, montierte ihn selbst, komponierte gemeinsam mit dem
erfahrenen Komponisten Graeme Revell die Musik und sicherte sich darüber hinaus
gleich die Mitarbeit von Miller selbst als Co-Regisseur. Um Millers
Unterstützung zu gewinnen, verfilmte Rodriguez eine kurze Passage aus den Comics
und führte sie zu Testzwecken potentiellen Interessenten an seinem Projekt vor.
Das Demo-Tape konnte neben dem Verfasser der Vorlage auch eine ganze Reihe
bekannter Schauspieler wie Bruce Willis, Benicio Del Toro und Clive Owen für SIN
CITY begeistern. Zu diesen zugkräftigen Namen gesellten sich die Nachwuchsstars
Jessica Alba, Elijah Wood, Brittany Murphy und der diesmal tatsächlich vor einem
Comeback stehende, mit Ausnahme von Rodriguez’ drittem Mariachi-Film seit
einigen Jahren in der Versenkung verschwundene Mickey Rourke. Eine weitere mit
Johnny Depp geplante SIN CITY-Episode musste aus Zeitgründen auf das bereits
angekündigte Sequel warten. Rodriguez arbeitet überlegt mit dem Erscheinungsbild
seiner Darsteller. Auf faszinierende Weise gleicht er diese an die gezeichneten
Figuren von Frank Miller an, ohne sich auf allzu forcierte Make-Up-Effekte, die
schon so manche Comicverfilmung ruiniert haben, einzulassen.
Die hochgradig stilisierten Protagonisten bilden eine interessante Kombination
aus dem Image der Schauspieler und den nach Archetypen der Hardboiled-Fiction
gestalteten Comicfiguren. Kaputte Existenzen wie der verbitterte Rächer Marv
gehörten in den achtziger Jahren zum festen Repertoire Mickey Rourkes, der schon
in Walter Hills JOHNNY HANDSOME (USA 1988) erste Erfahrungen mit Latexmasken im
Actionkontext sammelte. Bruce Willis gibt die vertraute Mischung aus
angeschlagenem Beschützer und Tough Guy mit enormer Ausdauer. Als brutaler
korrupter Cop knüpft Benicio Del Toro an seine expressiveren Rollen an und
bringt sogar jene überdrehten Manierismen ins Spiel, die er in einem seiner
ersten Auftritte als Killer-Sidekick in dem James Bond-Film LICENCE TO KILL (USA
1989) pflegte. Jessica Alba liefert mit ihrem Auftritt als laszive, Lasso
schwingende Nachtclub-Tänzerin hingegen das Gegenbild zu ihren Teenie-Filmen und
Elijah Wood zeigt als kannibalisch veranlagter Serienmörder dunkle Seiten, die
man nach seiner kulleräugigen Hobbit-Paraderolle nicht so schnell von ihm
erwartet hätte.
Die drei Episoden des Films orientieren sich an Standardsituationen des Noir,
die auf ihre Essenz reduziert und in ihrer Ikonographie comichaft überhöht
werden. Die Protagonisten geraten in strudelartige Abwärtsbewegungen, die bis
auf eine Ausnahme eine für sie alles andere als positive Wendung nehmen. Ständig
befinden sie sich an der Grenze zum Delirium, Selbstjustiz gehört zum Alltag und
die abscheulichsten Verbrechen führen in die obersten Kreise der Gesellschaft.
Die Bewohner der von ständiger Nacht umhüllten Stadt stellen die finstere
Antithese zu den Superhelden der amerikanischen Comics dar. Sie sind den
Traditionen des klassischen Noir verpflichtet. An jeder Ecke finden sich Tote
auf Urlaub, (Anti-)Helden wider Willen, die ihren eigenen Untergang von Anfang
an erahnen, Femme Fatales und Prostituierte, die sich angesichts der ständigen
Bedrohung als aufeinander eingespielte Gang selbst helfen, Senatoren mit dunklen
Geheimnissen und Psychopathen, die sich als Sin Citys Vorzeige-Cops erweisen.
Sämtliche Charaktere verfügen über eine für Comics charakteristische Tendenz zur
„larger-than-life“-Attitude. Das karge Stadtbild entwirft eine dem Stil der
Comicvorlage entsprechende minimalistische Version der Hinterhöfe und
schmierigen Absteigen, die durch die Greenscreen-Aufnahmen an eine dynamische
Variante alter Studioateliers erinnern. Der omnipräsente Regen und Schnee
erscheint so dominant, wie man es sonst nur aus den virtuellen Welten von
Videospielen wie der Noir-Shooter-Serie MAX PAYNE kennt.
Für die Darstellung von Comicgewalt auf der Leinwand setzt SIN CITY neue
Maßstäbe und gerät dennoch nicht cartoonhaft oder exploitativ. Die surreale
Brutalität einiger Sequenzen, in denen das Blut in Schwarz und Weiß die Leinwand
überschwemmt, erinnert an die groteske Rückkehr des gesellschaftlich Verdrängten
im Horrorfilm der siebziger und achtziger Jahre. Der von Elijah Wood gespielte
Serienmörder geht auf sehr eigenwillige Weise vor die Hunde. Der von Benicio Del
Toro dargestellte Cop segnet das Zeitliche, als er über seine eigene abgetrennte
Hand stolpert. Mit dem gelackten Hochglanz-Zynismus des neueren Actionkinos
haben Rodriguez und Miller allerdings nichts zu tun. Weder suchen sie nach
fragwürdigen Legitimationen für die sich innerhalb des Genrerahmens bewegende,
reichlich absurde Gewalt, noch ironisieren sie diese auf unangemessene Weise.
Vielmehr dient sie der zusätzlichen Intensität und der Verstärkung der
dramaturgischen Konflikte. Unterstützt werden die Comic-Auteurs von Quentin
Tarantino, der trotz seiner Aversion gegen digitale Kameras für eine Sequenz die
Gastregie übernahm, nachdem Rodriguez einen Song für KILL BILL VOLUME 2 (USA
2004) verfasst hatte. Die von Tarantino inszenierte Szene schildert das bizarre
Zwiegespräch zwischen einem Toten und dem Fahrer des Wagens, mit dem er entsorgt
werden soll. Sie bietet sowohl eine adäquate Umsetzung des Dialogs aus der
Graphic Novel, als auch eine indirekte Fortführung der in PULP FICTION (USA
1994) etablierten Cleaner-Thematik.
SIN CITY zählt neben der ebenfalls komplett vor virtuellen Kulissen entstandenen
Serial-Hommage SKY CAPTAIN AND THE WORLD OF TOMORROW (USA 2004) zu einem der
innovativsten Filme des digitalen Kinos. In ihnen werden die besonders in den
achtziger Jahren beliebten filmischen Retro- und Pastiche-Welten mit einer neuen
Perfektion und Detailgenauigkeit realisiert, ohne zu Abziehbildern zu geraten.
Die Stilmittel der Graphic Novel werden in SIN CITY kreativ und ohne forcierte
Bemühungen auf das Medium Film übertragen. Nachdem die Marvel-Adaptionen für
einen differenzierteren und vielseitigeren Umgang mit Comicverfilmungen sorgten
und HELLBOY (USA 2004) den skurrilen Charme der Vorlage auf der Leinwand
wiedergab, ohne in Camp abzugleiten, realisiert SIN CITY die konsequente
Verfilmung einer Graphic Novel, ohne Anbiederungsversuche an die Hochkultur und
mit dem entsprechenden Respekt vor der Ästhetik des Comics. Rodriguez und Miller
gelang ein überzeugendes, für weitere Adaptionen wegweisendes Joint Venture. Sie
befinden sich auf dem besten Weg zu den ersten Action-Stylisten des digitalen
Kinos zu werden.