Mean Streets Revisited - Style und Transzendenz
Bringing Out the Dead
(ursprünglich erschienen in Splatting Image)
Frank Pierce, ein Krankenwagenfahrer im New Yorker Elendsviertel Hell´s Kitchen
während der frühen 90er Jahre, zählt zu God's Lonely Men. Dieses Schicksal teilt
er mit den anderen gottverlassenen Protagonisten aus früheren Kooperationen
zwischen Martin Scorsese und Paul Schrader, wie Travis Bickle in TAXI DRIVER und
Jesus Christus in THE LAST TEMPTATION OF CHRIST. Frank würde gerne die
Erlöserrolle spielen. In einem surrealen Alptraum versucht er vergeblich die aus
dem Asphalt ragenden Hände der geisterhaften Verlorenen zu greifen, scheitert
jedoch immer wieder dabei. Während seine Kollegen sich ihre Welt mit Hilfe von
ekstatisch ausgelebter Religiosität, ständigem Heißhunger oder bornierter
Law-and-Order Mentalität entsprechend einfach gestalten und dadurch verhindern,
daß sie unter dem Druck ihres Jobs als Notärzte zusammenbrechen, sieht sich
Frank mit massiven Selbstzweifeln konfrontiert. Immer wieder erscheint ihm der
Geist eines Mädchens in den nächtlichen Straßen, das er vor einem halben Jahr
nicht vor den tödlichen Folgen einer Überdosis retten konnte. Am liebsten würde
Frank seine Arbeit ganz aufgeben. Doch trotz seines Drogeneskapismus und seiner
zahlreichen Versuche sich ziellos treiben zu lassen, kehrt er letztendlich doch
jedesmal wieder zu seinem Job zurück.
Die Begegnung mit Mary, deren Vater nach einem Herzinfarkt nur noch von
Maschinen am Leben gehalten wird, verursacht die langsame Wandlung des
apathischen und in sich gekehrten Sanitäters. Keine spektakuläre Romanze
entwickelt sich zwischen dem verhinderten Lebensretter Frank und dem ehemaligen
Junkie Mary, sondern vielmehr eine gleichermaßen vorsichtige, wie unterkühlte
Annäherung, die schließlich zum von beiden Seiten dringend benötigten Dialog
führt. Während Frank am Anfang noch erklärt, daß seine Aufgabe weniger darin
bestehen würde, Leben zu retten, sondern vielmehr als Zeuge einfach anwesend zu
sein, vollführt er am Ende des Films den nächsten Schritt und überwindet seine
Passivität, indem er versucht seine Erfahrungen mitzuteilen. Vielleicht ein
Ausweg aus dem alltäglichen, ritualisierten Kreislauf von Leben und Tod und der
zuvor vergeblichen Suche nach Transzendenz darin. Das Resultat dieses Wandels
klammern Scorsese und Schrader bewußt aus. Nicht die Aussprache, sondern der Weg
dorthin und die Verarbeitung der damit verbundenen Erfahrungen bilden das
zentrale Thema des Films. Entsprechend funktioniert BRINGING OUT THE DEAD in
erster Linie über die visuelle Ebene und weniger über die Dialoge, die allzu
leicht in ständig von diversen Krankenhaus-Soaps heimgesuchtes Terrain abgleiten
könnten.
Die Selbstüberwindung Franks bildet den zentralen Unterschied zu TAXI DRIVER
Travis Bickle, obwohl deutliche Parallelen zwischen beiden bestehen. Auch
BRINGING OUT THE DEAD zeigt die Fahrten durch das nächtliche New York, ein
Inferno aus verschiedenen Höllen, meistens aus der subjektiven Sicht Franks am
Steuer. Doch während sich Travis auf eine langsame Odyssee in den Wahnsinn
begibt, rast Frank von Anfang an mit Höchstgeschwindigkeit durch ein einziges
Fegefeuer aus selbstauferlegter Schuld und Sühne. Den programmatischen Song zu
seinen Wahnvorstellungen von Untoten, die er nicht retten konnte, liefert "You
Can´t Put Your Arms Around A Memory" von Johnny Thunders. Wie zuvor in GOOD
FELLAS und CASINO leistet die Songauswahl auf dem Soundtrack die direkte
Kommentierung und Intensivierung von Handlungssituationen. Neben vertrauten
Rock- und Soul-Standards greift Scorsese diesmal auch auf Songs aus der
klassischen Phase des britischen Punks Ende der 70er von The Clash ("I'm So
Bored With the USA" und "Janie Jones") und den Sex Pistols ("Pretty Vacant")
zurück. Der systematische Einsatz des Soundtracks steht bei Scorsese in einem
interessanten Austauschverhältnis zu den Bildern. Die Songs verstärken nicht nur
das Gezeigte, sie erfahren durch den Film auch umgekehrt eine neue Auslegung.
Die Motown-Hymne "Nowhere to Run" entwickelt sich zur treffenden Umschreibung
von Franks ausweglosem Zustand.
Die enorme Sogwirkung des Films, in dem sich die Grenzen zwischen stilisiertem
Realismus und surrealen Alptraumlandschaften auflösen, erzeugt neben dem
Soundtrack vor allem die dynamische Kamera von Robert Richardson, der neben
Scorseses CASINO hauptsächlich für Oliver Stone bei Filmen wie THE DOORS und JFK
tätig war. In BRINGING OUT THE DEAD treffen die MEAN STREETS auf Lars von Triers
KINGDOM. Ständig befinden sich schwarzer Humor und existenzielle, menschliche
Tragödie nur einen Schnitt voneinander entfernt. Dabei folgt der Plot keiner
klassischen linearen Erzählform, sondern besteht aus zahlreichen einzelnen
Tableaus, die Franks aufgelöster Realitätswahrnehmung entsprechen. Als er einen
Dealer, der im Delirium auf einem Zaun aufgespießt über dem Abgrund taumelt, mit
dem Schweißbrenner befreien muß, nimmt die Kamera dessen subjektive Sicht ein.
Die Funken des Brenners erscheinen als opulentes Feuerwerk. Den absurden
Einsätzen an der Seite von John Goodman als ständig hungrigem Sanitäter und Ving
Rhames als hyperaktivem Bibelfreak, der jede Rettungsaktion zu einem Wunder
Gottes verklärt und in einen Event verwandelt, stehen Franks einsame
Schreckensvisionen in der Tradition des Gothic Horrors gegenüber.
Für den Zusammenhalt der Geschichte sorgt neben der außergewöhnlichen formalen
Gestaltung auch Scorseses exzellent besetztes Ensemble. Nicolas Cage
demonstriert, daß er, wenn er mit den passenden Regisseuren wie Figgis, De
Palma, Woo oder jetzt mit Scorsese zusammenarbeitet, doch noch weit davon
entfernt ist, sich völlig auf die Rolle des handelsüblichen
Bruckheimer-Actionhelden festlegen zu lassen. Auch Patricia Arquette muß als
Mary nicht wie neulich in STIGMATA gegen ein stupides Drehbuch anspielen und
kann sich ganz auf die Nuancen ihrer Rolle konzentrieren. Der gemütliche John
Goodman und der expressive Ving Rhames liefern die nötigen Gegenpole zu Cages
leidendem Frank Pierce. Tom Sizemore, der als streitsüchtiger Schläger-Notarzt
Tom Walls genau über jene Leute herfällt, denen er eigentlich helfen sollte,
nimmt jene dumpfe Law-and-Order-Haltung vorweg, die in der zweiten Hälfte der
90er nicht nur die Innenstadtpolitik in New York bestimmte. Mit BRINGING OUT THE
DEAD kehren Scorsese und Schrader erfolgreich in die MEAN STREETS zurück, um
dort die Suche nach Transzendenz, die auch Scorseses vorangegangenen Film, den
kontemplativen Dalai Lama-Bilderbogen KUNDUN prägte, erfolgreich fortzusetzen.