New Rose Hotel
(ursprünglich erschienen in Splatting Image Dezember 2000)
"If I told you, the unexamined life ain't worth living, you wouldn't believe me anyway."
In seinen letzten Filmen benutzte Abel Ferrara, der mit KING OF NEW YORK (1989) und BAD LIEUTENANT (1993) noch als neue Hoffnung des Großstadt-Thrillers galt, Genreformate zunehmend als Grundlage für Abhandlungen über ethische und philosophische Probleme. THE ADDICTION (1994) entwickelte sich ausgehend von der abstrakten Variante einer Vampirgeschichte zu einem Film über die Verführungskraft des Bösen, über Schuld und Erlösung. In THE FUNERAL (1995) demontierte Ferrara das Genre des Mafiafilms und legte die inneren Funktionsstrukturen des patriarchalen Systems offen. Mit SNAKE EYES / DANGEROUS GAME (1993) und THE BLACKOUT (1997) thematisierte der Outcast der New Yorker Independent-Szene schließlich die Zusammenhänge des Filmemachens, die Verführungskraft der Bilder und die Abgründe dahinter selbst.
Obwohl Ferraras Werk sich in den letzten Jahren zunehmend gewagter und vielseitiger gestaltet, blieb der Erfolg (vielleicht gerade auf Grund der ungewöhnlichen künstlerischen Vorgehensweise) aus und Arbeiten wie THE ADDICTION gelangten erst Jahre später hierzulande in den Verleih oder starteten nur im äußerst begrenzten Umfang. Seinem neuesten Werk NEW ROSE HOTEL droht nun das gleiche Schicksal. Bisher wurde die mit Christopher Walken, Willem Dafoe und Asia Argento hochkarätig besetzte Adaption einer Kurzgeschichte des Cyberpunk-Autoren William Gibson (NEUROMANCER) nur auf einigen Festivals aufgeführt. Der ursprünglich für Herbst angesetzte Kinostart wurde weiterhin aufgeschoben.
Es war bereits zu erwarten, daß Ferrara keinen Cyberspace-Thriller im Stil Robert Longos, der mit JOHNNY MNEMONIC (1995) die erste Gibson-Verfilmung drehte, realisieren würde. Die Auflösung des Genrerahmens vollzieht sich bei Ferrara nicht zuletzt über die immer stärkere Anbindung an einen stilisierten Realismus. Folglich gibt es in NEW ROSE HOTEL keine Ausflüge in atemberaubende Cyberspace-Landschaften oder raffiniertes High Tech-Equipment. Stattdessen spielt sich die in einer nahen Zukunft, in der die internationalen Konzerne die Macht an sich gerissen haben, angesiedelte Geschichte in erster Linie in zunehmend klaustrophobischer gestalteten Hotelzimmern ab.
Den Mustern klassischer Hardboiled-Erzählungen folgend versuchen Fox (Ferrara-Regular Christopher Walken) und X (Willem Dafoe) mit Hilfe der Luxusprostituierten Sandii (Asia Argento) den renommierten Wissenschaftler Hiroshi im Auftrag eines gegnerischen Konzerns zu entführen. Doch die beiden Global Players, die auf den großen Coup hoffen, haben das Spiel bereits von Anfang an verloren. Der Auftrag entpuppt sich als Teil einer viel größeren tödlichen Intrige, zu der Sandii den Schlüssel darstellt.
X trainiert dem ursprünglichen Plan folgend Sandiis Verführungskünste, damit sie sich an Hiroshi heranmacht und ihn von seiner Familie und seinem Job entfremdet. Doch bei Xs Nachhilfe in Sachen Kontaktaufnahme, verliebt er sich wirklich in Sandii. Für diese war der Auftrag ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte. Fox gab ihr in klassischer Christopher Walken-Manier eine Bedenkzeit von weniger als einer Sekunde ("Of course we give you time to think about it. - Okay, time's up.")
In einer der ersten Szenen von NEW ROSE HOTEL erklärt Fox, Platon zitierend, "If I told you, the unexamined life ain´t worth living, you wouldn´t believe me anyway.", und genau darin liegt in typischer Ferrara-Tradition Xs Problem. Wie Mattew Modine in THE BLACKOUT und Walken in KING OF NEW YORK beginnt der von Dafoe einfühlsam und zurückgenommen dargestellte X erst sein Handeln zu hinterfragen, als es zu spät ist. Als Sandii ihn fragt, ob sie zusammenbleiben sollen und er sie heiraten will, weicht er ihr aus und erklärt, daß sie darüber erst nach Beendigung des Auftrags reden werden.
Durch die Einhaltung des Plans, in dem Sandii nur über ihren Warenwert und nicht als Person betrachtet wird, nimmt das Dilemma seinen Lauf. Sie entpuppt sich als Agentin der gegnerischen Seite und nutzt die Gelegenheit, um den Führungsstab des Konzerns, der X und Fox beauftragt hat, mit einem Virus umzulegen. Während kurz zuvor das Duo noch den sicheren Erfolg und den neuen Reichtum feierte, werden sie innerhalb kürzester Zeit zu Gejagten. Im letzten Drittel des Films zieht sich X in das karge New Rose Hotel zurück und beginnt den Verlauf des Geschehens aus diversen Perspektiven zu reflektieren.
Im Gegensatz zu den dramatischen Enden seiner letzten Arbeiten, läßt Ferrara den Ausgang offen. X will mit der von Sandii zurückgelassenen Pistole Selbstmord begehen, doch im letzten Moment besinnt er sich, verzehrt von Sehnsucht nach der gescheiterten Liebe. Die verschiedenen Erinnerungsstränge stehen ungelöst nebeneinander. Die radikal subjektive Schilderung der Ereignisse aus der Sicht des innerlich zerrissenen X läßt die Fragen offen und gibt sie an den Zuschauer zurück. Die Suche nach Transzendenz läßt sich innerhalb des filmischen Raums nicht lösen. Dieses Scheitern eines "unexamined life" steht am Ende zur weiteren Disposition. Ferrara stellt Genreformen und ihre Inhalte in Frage und verbindet sie mit umfangreicheren Problemen, er gibt aber nicht die Antworten auf diese. Wie seine Protagonisten, befindet er sich selbst ständig auf der Suche nach Erkenntnis im Exzeß und faßt diese brillant in Bildern und Stimmungen zusammen.
In Xs Reflexion auf das zuvor Gezeigte setzt Ferrara konsequent die stream of consciousness-Erzähltechnik der Vorlage um. Auch ansonsten hält er sich relativ genau an das Gibsonsche Original. Durch den geschickten Verzicht auf Cyberspace-Szenarien lenkt Ferrara den Blick auf andere zentrale Elemente bei Gibson. Die tristen Welten des Spätkapitalismus definieren sich nur noch über ihre Funktionalität. Die Städte ähneln einer uniformen Megalopolis. Die Operationen werden von den zunehmend kälter gestalteten Hotelzimmern aus über Videomonitore gesteuert. Mit einem Knopfdruck löst sich das erbeutete Geld in Nichts auf und der tödliche Virus befindet sich als unscheinbare Platine in Sandiis Paß. Für Outcasts wie Fox und X besteht in dieser Welt kein Bedarf mehr. Sie sind für die nicht mehr faßbare Macht nur reines Mittel zum Zweck.
Walken spielt Fox als gleichermaßen faszinierenden, wie überdrehten Selbstdarsteller, zu dem Dafoes X den ruhigen, aber gleichzeitig in seinem Handeln auch zu lange passiven Gegenpol bildet. Die überwältigende Asia Argento changiert als Sandii geschickt zwischen verführerischer Unschuld und professioneller Abgeklärtheit. In den Nachtclubszenen zu Beginn führt sie in dieser Sicherzeitszone innerhalb der tristen Realität zu einem einfachen Gitarrenriff eine unter die Haut gehende Ballade über eine vergebliche Liebe auf, die das spätere Geschehen vorwegnimmt und die ihr zugleich als musikalisches Thema zugeordnet wird.
Der von dem Gangsta-Rapper Schooly D, der seit Anfang der 90er Jahre zum festen Ensemble um Ferrara gehört, als hypnotische Breakbeat-Collage arrangierte Soundtrack begleitet nicht nur die zunehmend fragmentarischer angeordneten Bilder. In den Erinnerungsfetzen, die sich im letzten Drittel zu keinem geschlossenen Ganzen mehr fügen, stellt er die Verbindungen im stream-of-conscoiusness-Fluß her. Es bleibt zu hoffen, daß der Score, wie auch die bisher immer noch nicht komplett erhältlichen Kompositionen Schooly Ds zu THE BLACKOUT, irgendwann doch noch den Weg in die Plattenläden findet.
Ferrara gelang mit NEW ROSE HOTEL nicht nur eine grandiose Gibson-Adaption. Er konnte mit Hilfe der üblichen Verdächtigen (Christopher Walken und Willem Dafoe produzierten den Film gemeinsam mit Edward R. Pressman) von Kameramann Ken Kelsch bis hin zu Schooly D erneut seine Position als einer der faszinierendsten maverick directors behaupten.
Die Vorlage NEW ROSE HOTEL erschien auf deutsch in der 1988 bei Heyne veröffentlichten Kurzgeschichtenanthologie CYBERSPACE.