Anatomie eines Bankraubs
Inside Man
Die ersten Einstellungen von Inside Man erinnern an die atmosphärischen New
York-Impressionen, die als Foto-Montage vor zwanzig Jahren Spike Lees Debütfilm
She’s Gotta Have It eröffneten, mit dem er, flankiert von Regisseuren wie Jim
Jarmusch oder kurze Zeit darauf Steven Soderbergh, eine neue Ära des
Independent-Kinos einleitete. Die Nachricht, dass im Mittelpunkt des neuen Spike
Lee-Films Inside Man ein raffinierter Banküberfall mit überraschendem Ausgang
stehen würde, weckt zuerst Assoziationen an die Ocean’s 11-Serie (USA 2001/04)
von Soderbergh und George Clooney, die mit diesen smarten Ganovenstücken sich
das Geld für ambitioniertere, finanziell weniger lukrative Produktionen
beschaffen. Diese Vorstellung erscheint erst einmal ähnlich abstrus, als würde
Ken Loach den neuen James Bond-Film inszenieren. Doch Lee versteht es auf
raffinierte Weise seine politisch engagierten Inhalte, für die er seit Do the
Right Thing (USA 1988) und Malcolm X (USA 1992) international bekannt ist, mit
einem kommerziell zugänglichen Format zu verknüpfen, ohne sich auf Kompromisse
einzulassen. Die zentralen Themen seiner Filme wie moralische Verantwortung,
rassistische Vorurteile und die Gewissenlosigkeit selbstbezogener Spekulanten
bleiben weiterhin präsent, auch wenn es erst einmal ungewohnt erscheint, dass
ein Spike Lee-Film an einem Tag so viele Zuschauer in ein Multiplex-Kino zieht,
wie seine sonstigen Arbeiten in zwei Wochen Spielzeit in einigen, unermüdlichen
Programmkinos finden.
Wie so häufig im Wechselspiel zwischen Indie und Mainstream kommt es in Inside
Man auf den Rhythmus und die damit verbundenen Akzentuierungen an. Der Vorspann
mit seinen beinahe kontemplativen Stadtbildern versichert skeptischen
Zuschauern, dass sie es mit einem echten Spike Lee-Film zu tun haben, und nicht
den halbherzigen Versuch einer ehemaligen Indie-Ikone in Hollywood Fuß zu fassen
befürchten müssen. Die Etablierung des Settings zu den wie gewohnt zwischen
epischen Hymnen und relaxtem Jazz changierenden Klängen von Terence Blanchard
rückt den Alltag im Big Apple in einer Weise in den Mittelpunkt, wie sie sich im
gegenwärtigen Hollywood-Kino kaum mehr findet.
Die folgende Exposition, in der die Alltagsroutine in einen Ausnahmezustand
umschlägt, arbeitet geschickt mit den Konventionen des Caper-Movies. Die
Besetzung der Bank durch die Geiselnehmer erfolgt nach den Regeln bekannter
Standardsituationen, die sowohl von den Klassikern des Genres wie Dog Day
Afternoon (USA 1975), als auch den Stilübungen in John McTiernans Die Hard (USA
1988-1995) oder Roger Avarys selbstreflexivem Killing Zoe (USA 1995) eingehalten
werden. Unauffällig mischen sich die Kidnapper ins Geschehen, bevor sie
unerwartet und mit aller Härte zuschlagen. Die Geiseln bilden einen
repräsentativen Querschnitt durch die New Yorker Bevölkerung. Sie geben Spike
Lee beiläufig Gelegenheit seine diesmal zu Gunsten der Stars etwas in den
Hintergrund getretene Ensemble-Inszenierung zum Einsatz zu bringen.
In einem raffinierten Schachzug kleidet die maskierte Gang erst einmal sämtliche
Gefangenen mit den gleichen Uniformen ein, die sie selbst tragen. Entführer und
Opfer lassen sich nicht mehr klar unterscheiden. Clive Owen spielt als tougher,
geschickt kalkulierender und (zumindest für die mit Spike Lees Weltsicht nicht
vertrauten Zuschauer) überraschend moralischer Bandenchef geschickt mit seinem
Image. Spätestens seit Sin City von Robert Rodriguez und Frank Miller (USA 2005)
weiß man, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Der Versuch eines Gefangenen mit
seinem Handy Hilfe zu holen wird mit brutaler Gewalt quittiert und dennoch
beruhigt der Entführer einen kleinen Jungen, der sich unsicher ist, ob er seinen
Gameboy ebenfalls abgeben muss.
Erst nach einer Weile wird klar, dass dem Gezeigten nicht zu trauen ist. Sogar
der vermeintlich klar abgesteckte, erzählerische Rahmen einer Rückblende des
offensichtlich gefassten Täters erweist sich als längst nicht so zuverlässig,
wie es traditionelle Sehgewohnheiten nahe legen würden. Die seit Lees ersten
Erfolgen She’s Gotta Have It und Do the Right Thing (USA 1988) wiederkehrende,
konsequente Infragestellung vorurteilsbelasteter Wahrnehmungsmuster bildet ein
zentrales Thema in Inside Man. Der Pate des ehemaligen New Black Cinema nutzt
seinen Ausflug in das Genre der gerissenen Gangster, der dynamischen
Polizeikommandos und der überraschenden Double Twists, um daraus einen
filmischen Essay über die Unzuverlässigkeit flüchtiger Eindrücke zu gestalten.
Wie von Lee gewohnt stellt der Film, eine bekannte Forderung Jean-Luc Godards
beispielhaft erfüllend, auch eine filmische Kritik am Medium selbst dar. Doch im
Unterschied zu Godard nimmt Spike Lee das System von innen heraus ins Visier,
indem er nicht die Brüche und Kommentare in den Mittelpunkt rückt, sondern sie
im Rahmen eines Genrefilms geschickt platziert. Vergleichbar dem im Film
behandelten Coup, spielen bei genauerer Betrachtung die Nuancen eine wichtige
Rolle. Die gegenwärtige Stimmung im New Yorker Alltag kommt gerade in der
Extremsituation deutlich zum Ausdruck. Ein aus der Geiselhaft entlassener
Turbanträger erscheint der Polizei auf Anhieb verdächtig und wird von ihr
ausgesprochen unfreundlich behandelt. Die von Lee gewohnte bissige Sozialkritik
und Polemik gegen die Bush-Regierung findet sich in Inside Man nach wie vor. Man
muss lediglich etwas genauer hinsehen; etwa wenn ein entlarvter Kriegsgewinnler
und Nazi-Kollaborateur auf seine ehrbaren Kontakte verweist und sich in seiner
Fotosammlung neokonservative Prominenz wie die Bush-Familie und Margaret
Thatcher finden. Die verkrampfte Zurückhaltung eines zu rassistischen Ausbrüchen
neigenden Polizisten lässt seine wahre Gesinnung deutlicher erahnen, als wenn er
versuchen würde die Hasstiraden aus der bekannten Montagesequenz aus Do the
Right Thing, in der sich alle Protagonisten die übelsten Denunziationen an den
Kopf werfen, zu überbieten.
Aus seiner Aversion gegen das exploitative Kalkül des Gangsta-Raps hat Lee nie
einen Hehl gemacht. Bereits in dem Cop-Thriller Clockers (USA 1995) tauchte ein
fiktives in der Hood angesiedeltes Ballerspiel auf. In Inside Man erklärt selbst
der Anführer der Geiselnehmer dem kleinen Jungen, dessen Videospiel sich als ein
Klon des satirischen Gangsta-Videospiels GTA – San Andreas erweist und der für
den Get Rich Or Die Trying-Rapper 50 Cent schwärmt, dass er mal ein ernstes Wort
mit seinem Vater reden müsse. Spike Lee unterstreicht in dieser Sequenz zwar
sein etwas arg didaktisches Anliegen, er versteht es allerdings dieses mit einer
Gelassenheit zu vermitteln, die in den intensiven, atemlosen Werken der späten
Achtziger und frühen Neunziger Jahre nicht vorstellbar gewesen wäre.
In der für ihn typischen Weise überhöht Spike Lee, etwa in der moralischen
Gesinnung des Geiselnehmers oder im Vorbildcharakter des Einsatzleiters, das
Alltägliche ins Epische und holt umgekehrt den Bombast des Genres auf den Boden
der Tatsachen zurück. Einen wesentlichen Beitrag zur fesselnden, aber für Spike
Lees Filme relativ entspannten Atmosphäre leistet Denzel Washington als
charismatischer Ermittler. Er bringt seine Star-Qualitäten ins Spiel ein, ohne
sie demonstrativ auszustellen. Im Gegenteil verleiht er seinem Charakter eine
selbstbewusste und unaufgeregte Ausstrahlung, die ihn im Gegensatz zu den
angespannten Bewährungsproben des Genres auf dem Boden bleiben lässt. Nach
seiner Ankunft am Tatort sinniert er, dass es jetzt in einem gewöhnlichen
Thriller an der Zeit wäre, dass jemand auftauchen würde, der sich als Spezialist
für solche Fälle betrachtet. In anderen Filmen würde spätestens an dieser Stelle
genau solch ein Paragraphenreiter oder ein anderer unter maßloser
Selbstüberschätzung leidender Dilettant dem instinktsicheren, einzelgängerischen
Helden das Leben schwer machen. Bei Spike Lee müssen sich die Cops hingegen mit
unspektakulären Hindernissen wie der Suche nach einem albanisch sprechenden
Dolmetscher oder einer von den Bankräubern aufgegebenen Pizza-Bestellung
herumschlagen. In Inside Man herrscht im Einsatzteam eine beinahe familiäre
Atmosphäre. Willem Dafoe lässt die Rolle des Sidekick-Cops gerade durch seine
Zurückhaltung und stille Professionalität glaubwürdig erscheinen. Washington und
Chiwetel Ejiofor als sein Kollege spielen sich einige amüsante One-Liner zu,
ohne dass sich der Film tatsächlich auf das Terrain eines Buddy Movies begeben
würde. Auf unaufgeregte Weise hat Spike Lee mit Inside Man seine Forderungen
nach glaubwürdigen, afro-amerikanischen Alternativen zu den kaukasischen
Hollywood-Haudegen in die Tat umgesetzt, ohne dass dafür ständig Manifeste nötig
wären. In den letzten Sequenzen gönnt er Denzel Washington, der in einem
eleganten Anzug den Fall abschließt, sogar eine kurze Hommage an seine
Detektivrolle in dem Film Devil In A Blue Dress (USA 1995), ohne sich in
gesuchten Doppelcodierungen zu verlieren. Wenn bei Spike Lee Anspielungen auf
andere Filme auftauchen, handelt es sich, abgesehen von dieser kurzen Verbeugung
vor seinem, bereits zum vierten Mal unter seiner Regie auftretenden Star, nicht
um cineastische Suchspiele, sondern wie in Jungle Fever (USA 1991) und Do the
Right Thing um explizite Formen der Bilder- und Medienkritik.
Die Besetzung der zentralen Rollen erweist sich wie von Spike Lee gewohnt als
ausgesprochen treffsicher. Jodie Foster verleiht der kaltblütigen Unterhändlerin
Madeline White eine sarkastische Note, ohne sich auf die Stereotypen des
Agit-Pops einzulassen, obwohl die von ihr gespielte Figur durchaus dazu einladen
würde. Christopher Plummer vermittelt als Bankier mit dunkler Vergangenheit die
Abgründigkeit eines Charakters, der an einem historisch entscheidenden Punkt
seine Seele verkaufte und nie gelernt hat, dass sich persönliche Integrität
nicht mit finanziellen Mitteln wiederherstellen lässt.
Die Einführung einer weiteren Erzählebene, die im Nachhinein die Befragung der
befreiten Zeugen durch die Polizei zeigt, nutzt Spike Lee geschickt zur
Spannungssteigerung. Offensichtlich ging der Überfall nicht wie gewohnt aus und
die Geretteten wissen etwas über den Verbleib einiger Täter. In diesen Szenen
greift Lee ästhetisch auf jene raue, dokumentarisch anmutende Ästhetik zurück,
die er seit Clockers gerne als Indikator für unsichere emotionale Zustände
einsetzt. In diesen Sequenzen sprechen die Charaktere meistens direkt in die
Kamera. Dieses Stilmittel, das in She’s Gotta Have It noch als Cinema
Véritè-Anspielung für zusätzliche Fake-Authentizität sorgte und in Do the Right
Thing als Brechtscher Verfremdungseffekt die Illusion durchbrach, fügt sich
nahtlos in die Erzählstruktur des Films ein. Spike Lee hat sich inhaltlich und
formal nicht wirklich von seinem gewohnten Terrain verabschiedet. Vielmehr hat
er einen publikumswirksamen Rahmen für seine Botschaften und formalen
Experimente gefunden. Sogar die berüchtigten Dolly Shots, in denen Protagonisten
als Äquivalent zu einer introspektiven Erzählhaltung auf dem Kamerawagen stehend
gefilmt werden, finden sich in zwei Sequenzen.
Spike Lee sichert sich als Hybrid zwischen Studio-Produktionen und
Independent-Kino mit Inside Man effektvoll seine eigene Nische. An der
Produktion des Films beteiligte sich zwar das Major-Studio Universal, doch
langjährige Wegbegleiter wie der Indie-Produzent John Kilik halten ihm
entsprechend den Rücken frei. Im Unterschied zu Do the Right Thing versucht
Universal inzwischen auch gar nicht mehr Lee nach Hollywood zu locken. Im
Gegenteil hat man sich offensichtlich damit abgefunden, dass er neben Martin
Scorsese, Abel Ferrara und Woody Allen zu den prägenden New Yorker Regisseuren
zählt, der es immer wieder versteht in seinen Filmen Lokalkolorit mit allgemein
relevanten moralischen und politischen Fragestellungen zu verbinden.
Wie schon in der als Serial Killer-Drama verpackten Milieustudie Summer of Sam
(USA 1999), der alles andere als komischen Mediensatire Bamboozled (USA 2001)
oder dem Charakterdrama The 25th Hour (USA 2003) versteht es Spike Lee nach wie
vor wie kaum ein anderer Regisseur präzise politische Analysen, individuelle
Handschrift und die Dekonstruktion etablierter Erzählstrukturen auf fesselnde,
engagierte und dennoch nicht übermäßig didaktische Weise zu verbinden. Wie die
zunehmend in einem übergreifenderen internationalen Rahmen realisierten Ansätze
seiner Freunde von Public Enemy, die sich nicht mehr auf die Parole „It’s a
Black Thing, you wouldn’t understand“ beschränken, versteht er es auf geschickte
und glaubwürdige Weise seine Vorstellung einer afro-amerikanischen Perspektive
als diskursive Einladung zur Reflexion der Medien-Mythen des Alltags zu
gestalten.